Bauen wir Luzern neu

Seine Pionierjahre hat Luzern zwischen 1850 und 1914 erlebt.
Jetzt beginnt erneut eine Periode der Neuerfindung:
dank dem Durchgangsbahnhof.

TEXT Bruno Affentranger
Lesezeit 5 Minuten
Schöne Pionierzeit. Der Luzerner Bahnhof von 1896, aufgenommen eines Sommerabends Anfangs des 20. Jahrhunderts. Mit ihm beginnt und endet diese Geschichte.

Die Stadt Luzern, so wie wir sie heute kennen, ist im 19. Jahrhundert entstanden. Denn so sieht es aus: Luzern ist eine Erfindung. Sie ist ein geniales Konstrukt, das nach den europäischen Friedensschlüssen, nach der Gründung der modernen Schweiz und mit dem steigenden Reisefieber wie selbstverständlich wuchs und seine Übertreibungen erlebte. Hätte nicht damals der Erste Weltkrieg der Hausse ein Ende gemacht, wäre sie übrigens an der bereits fühl- und statistisch ablesbaren Überhitzung zugrunde gegangen. Zu viele wollten in zu kurzer Zeit das grosse Geld machen – sie spekulierten auf weiterhin rapides Wachstum, doch dieses verlangsamte sich bereits 1913 merklich.

Die Pionierjahre zuvor dürfen als die Erfolgsgeschichte dieser Stadt gelesen werden. Aus einem durch Söldnertum zu Reichtum aufgestiegenen Fischerort am Ausfluss der Reuss aus dem Vierwaldstättersee wurde innerhalb von sechzig spektakulären Jahren eine internationale Fremdenverkehrsdestination und Anbieterin vieler tourismusnaher Tätigkeiten und Industrien. In ihrem Zentrum erfand sich diese Stadt neu – so wie sie es erstmals wieder in den kommenden Jahren tun wird.Wir befinden uns auf der Schwelle zu einem neuen Schub, der von historischer Dimension ist. Die Analogien zwischen den Pionierjahren und der Gegenwart sind frappant: Gestern wie heute waren folgende Faktoren als treibende Kräfte auszumachen:

Technologischer Entwicklungsschub:
Im 19. Jahrhundert bestimmten neue Antriebstechnologien (Dampf, Benzin), Elektrizität, Wasserversorgung und Kommunikationstechniken (Telegraf, Telefon) die Pace. Heute stecken wir in der digitalen Transformation, die nicht nur Altes neu abbildet, sondern frische Geschäftsmodelle und Abläufe entwickelt. Der stationäre Handel in Luzern ist besonders herausgefordert, muss er doch für den Verkauf seines Sortiments eine passende Mischung zwischen Offline- und Onlinehandel finden und vermutlich die Quadrat-meterzahl der einzelnen Verkaufslokale vor allem in den Erdgeschossen senken.

Mentaler Wandel:
Was in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der unbedingte, ungetrübte Glaube an die technologischen Machbarkeiten und die Unterwerfung der Welt durch den aufgeklärten Menschen war, findet heute in westlichen Industriestaaten sein Pendant in einem wachsenden Bewusstsein der ökologischen und gesellschaftlichen Verantwortung. Dieses Bewusstsein wird aktuell aggressiv auf die Strasse getragen und fordert vorab die (männlichen) Eliten. Dies mit dem Ziel, einen Umschwung des Denkens zu bewirken. Es ist gewissermassen der gedankliche Humus für jede Entwicklung, die sich in Bauwerken und infrastrukturellen Abläufen verfestigen wird.

Mobilitätsanforderungen definieren:
Einer wachsenden Bevölkerung (Vervierfachung in Luzern zwischen 1850 und 1913!) im 19. Jahrhundert steht heute ein steigender Mobilitätsdruck in der gesamten Region gegenüber, der das Zentrum überfordert. Damals wurden überflüssig gewordene und zu Hindernissen des Fortschritts mutierte Wehrtürme und Mauern geschliffen und es entstand Platz für Strassen. Heute ist der Verteilkampf um die freien Flächen verbissener, weil weniger Spielraum vorhanden ist. Die Anforderungen der Gesellschaft sind indes nicht kleiner. Bis 2030 wird der Verkehr auf den Luzerner Strassen im Vergleich zu heute um vierzig Prozent zunehmen. Lösungen müssen bereitgestellt werden – und dies nicht erst im Jahr 2040, sondern nach und nach und ab sofort. Der Rückstand auf die Entwicklung ist jedoch beträchtlich, und die Planer werden ihn nicht mehr aufholen. Zu entnervend langsam sind die kleinteiligen und auf Gemeindeebenen heruntergebrochenen demokratischen Prozesse angelegt. Ähnlich sieht es beim Tourismus aus, von dem zu erwarten ist, dass die Ansprüche der bis 2030 meist aus Asien stammenden Individual- und Kleingruppen-Reisenden exponentiell zulegen. Nicht die grossen Cars, sondern Kleinbusse oder andere Gefährte werden die Innenstadt belasten, nicht der Tourismus, sondern der hausgemachte Langsamverkehr wird sie fluten.

Entwicklungsflächen entstehen:
Hier kommt der Durchgangsbahnhof ins Spiel, dessen städtebaulichen Auswirkungen für das Zentrum der Zentralschweiz noch gar nie abschliessend diskutiert worden sind. Bis 2040 soll er fertiggebaut sein. Er wird viele zusammenhängende Quadratmeter freispielen, die heute durch Eisenbahn oder verkehrsnahe Betriebe besetzt sind. Erstmals seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert besteht damit die Option, mitten in der Stadt Neues zu planen und Abläufe zu arrangieren für Nachfragen, die wir heute zum Teil noch gar nicht kennen. Hinzu kommen die vielen frei werdenden Flächen aus dem stationären Handel in Erdgeschossen und in besten Lagen. Freie Sicht nicht aufs Mittelmeer, aber auf den Vierwaldstättersee gewissermassen.

Der zukünftige Durchgangsbahnhof im Querschnitt.

Luzerner Pionierjahre

1837
Die «Stadt Luzern», das erste Dampfschiff auf dem Vierwaldstättersee, nimmt seinen Dienst auf.

1845
Das erste Luxushotel Luzerns – der «Schweizerhof» – eröffnet und zieht viele weitere Investitionen nach sich.

1856
Der erste Bahnhof in Luzern wird eingeweiht und verbindet Luzern neu via Olten und Basel mit Frankreich und Deutschland.

1864
Die Eisenbahnlinie Zürich–Zug–Luzern nimmt den Betrieb auf.

1871
Die erste Zahnradbahn Europas fährt erstmals von Vitznau auf die Rigi.

1885
Zum ersten Mal elektrisches Licht in Luzern: Der Bringolf-Saal im «Schweizerhof» wird dank der Energie aus dem neuen Wechselstromkraftwerk der Gebrüder Troller aus Littauerboden hell erleuchtet und sorgt für eine europäische Sensation.

1889
In der Stadt wird wacker am Dienstleistungsprogramm für Touristen gebaut: Die Panorama- Rotunde mit dem Bourbaki-Rundbild entsteht. Die steilste Zahnradbahn der Welt führt neu von Alpnachstad auf Pilatus-Kulm.

1893
Die Standseilbahn aufs Stanserhorn wird eröffnet.

1895
Graf Cognard aus Frankreich fährt als erster Automobilist über den Gotthardpass und legt mit seinem Peugeot einen Halt in Luzern ein.

1897
Anschluss Luzerns an die Gotthardbahnstrecke, die bereits 1882 eröffnet wurde.

1910
Die weltweit erste Luftschiff-Linie lädt auf dem Tribschenmoos in Luzern (beim heutigen Eisfeld) zum Einsteigen.

1913
Die Drahtseilbahn Engelberg–Gerschnialp wird eröffnet.

1914
Am Vorabend des 1. Weltkriegs öffnet der letzte Hotelneubau Luzerns vor einer Pause von mehr als vier Jahrzehnten seine Türen: Mit dem Hotel Anker geht die Pionierzeit Luzern zu Ende. Luzern zählt damit 9400 Hotelbetten, was bis heute Rekord bedeutet (heutiger Stand: 6019 Hotelbetten).