Das Verkaufstalent
Seit über 55 Jahren arbeitet Martha Weber in Weber’s World, das heute von ihrer Tochter geführt wird. Es ist ein kleines, schmuckes Lokal am Luzerner Weinmarkt und das erste und älteste Messergeschäft der Zentralschweiz. Heute, mit 92 Jahren, ist sie immer noch aktiv an der Front und ein Ausbund an Energie und Tatendrang.
Martha Weber hat einiges gesehen und erlebt im Laufe ihres langen Lebens. Sie ist eine Frau, wie sie sagt, die resolut ihren Schwächen trotzte und immer wieder das Positive sah. Eine 92-jährige Frau, die keine Pension kennt, weil die Arbeit zu ihrer Lebenshaltung gehört und die noch heute bereit ist, neue Technologien zu erlernen wie zum Beispiel eine Computerkasse zu verstehen.
Die Jugend in Zeiten des Krieges
Martha wuchs im Weinbergli auf. Ihr Vater, Georges Stalder, war ursprünglich aus La Chaux-de-Fonds. Von ihm hat sie das Flair fürs Französische, ja überhaupt für Sprachen, geerbt. Ihr Vater war Bähnler, wodurch sie gratis Zug fahren konnte, wie sie sich mit Freude erinnert. Sie blickt auf eine durchaus unbeschwerte, einfache und glückliche Jugend zurück. Dennoch: Es waren schwere Zeiten während des Zweiten Weltkriegs. Sie erinnert sich an Brot mit «Fäden», praktisch ungeniessbar, doch man musste halt essen, was man kriegte. Sie erinnert sich an ihre regelmässigen Ferienaufenthalte bei einer Tante in Kleinbasel, nahe der Grenze zu Deutschland. Damals beobachtete sie mit ihr, wie Flugzeuge vom Himmel geschossen wurden und beide fragten sich, wen es nun erwischt hätte: einen Deutschen, einen Alliierten?
Mit 15 musste sie in die Lehre als Damenschneiderin. Eigentlich wollte sie lieber in den Verkauf – ihr extrovertiertes Wesen schrie förmlich danach, wie sie sich heute, bald 80 Jahre später, daran erinnert. Das hatte aber durchaus seine guten Seiten. Als sie später ihre zwei Buben gebar, konnte sie ihnen bald Hosen schneidern, nicht die üblichen Strümpfe, die Kleinkinder damals trugen. Und als Zwanzigjährige habe sie sich lange Hosen genäht und sei erhobenen Hauptes durch die Strassen von Luzern stolziert. Damals eine Sensation: Sie wähnte sich als «Marlene Dietrich der Schweiz».
Die erste Liebe
Ihre erste grosse Liebe war ein Basler, den sie mit 18 kennenlernte. Doch dieser musste eine andere heiraten. Sie trauerte ein Jahr lang, ging kaum noch tanzen, was ihr doch immer Spass gemacht hatte. Aber dann war die Trauerzeit vorbei. Es kam die Fasnacht und mit ihr die schnelle Liebe. Sie wurde mit zarten 20 Jahren schwanger und heiratete Hans Tschupp: «Zu jener Zeit heiratete man eben», meint sie dazu. Es gehörte zum guten Ton. Die Ehe stand aber von Anfang an unter keinem guten Stern. Ihre beiden Söhne, Hanspeter und Beat, liebte Martha. Sie tat alles, um ihnen unter den schwierigen Umständen eine normale Kindheit zu ermöglichen. Dafür arbeitete sie hart. «Doch unterzukriegen war ich nie!», sagt sie und man glaubt es ihr sofort. Martha blieb ein «Tanzfüdli», immer wieder genoss sie die wunderbar prächtigen Fasnachtsbälle im Kunsthaus Luzern. Ihre Freundinnen und sie schneiderten sich Kleider aus dem gleichen Muster und trumpften am Ball so richtig auf.
Die glückliche Wende
Das Glück meinte es später gut mit ihr, als sie ihren Hermann im Casino traf. Er, der im Grunde sehr gut tanzte, und doch so gerne auf dem Balkon dem bunten Treiben auf der Tanzfläche von oben zuschaute, sich aber selten nach unten ins Getümmel wagte. Ein schüchterner Mann. Jahrelang sind sie wohl zur selben Zeit im gleichen Raum gewesen, doch erst 1957 war es so weit. Der Funke sprang schnell über. Beide waren unglücklich verheiratet, beide fanden ein neues Glück. Sie lernte Ski fahren und hielt nicht inne, bis sie auf verschiedene Dreitausender stieg, Skitouren machte und dann mit Herz und Seele Skilehrerin wurde und kleinen Kindern das Skifahren beibrachte. Zu dieser Zeit fand sie auch eine befriedigende Arbeitsstelle im Minigolf Hermitage. Sie führte dieses schön gelegene Spielparadies am See mit Hingabe und blieb für die kommenden 27 Jahre die treue Seele der Hermitage, welche so manchen Schiffskapitän mit einem «Kafi Schnaps» beglückte und dabei Geschichten zuhörte, die das Leben schrieb.
«Das waren herrliche Zeiten», erinnert sich Martha. Im Alter von vierzig Jahren, 1967, brachte Martha ihre Tochter Manuela zur Welt: «Mit meinem Hermann eine gemeinsame Tochter, das war mein sehnlichster Wunsch.» Heute führt die Tochter das Geschäft weiter.
Und, endlich, erinnert sich Martha Weber, erhielt sie die Gelegenheit, ihr Verkaufstalent auszuleben. Sie denkt gerne an jene Zeiten zurück, als sie im Sommer jeweils bis Mitternacht geöffnet hatten, zwischendurch ins Lido baden und essen gingen. Lange Tage zu zweit. Praktisch rund um die Uhr sei sie mit ihrem Mann zusammen gewesen. Sie hätten sich auf Anhieb verstanden, auf stille Weise einander ergänzt. Er der zurückhaltende, seriöse, erfahrene Geschäftsmann. Sie die temperamentvolle Verkäuferin und das neue Herzstück im Geschäft.
Das Wirtschafts- und andere Wunder
Das Geschäft gedieh prächtig in den 1960er Jahren, vor allem im Zuge der wachsenden Tourismusströme. Messer Weber, wie das Geschäft damals hiess, spezialisierte sich zunehmend auf Schweizer Sackmesser und ergänzte das Sortiment mit Souvenirprodukten. Von Beginn weg schätzte Martha Weber den Kontakt zur Kundschaft, die schon damals vorwiegend aus Touristen bestand. Zu der Zeit waren es vor allem die Amerikaner und Japaner, erinnert sie sich, lange bevor die Chinesen Luzern eroberten. «Domo aregato koseimas», sagt sie jeweils mit entsprechender höflicher Gebärde, wenn ein Japaner ihr Geschäft verlässt. Das bedeute «ich danke vielmals» und komme sehr gut an, meint sie. Oder «oya sumina sai», was so viel heisst wie «haben Sie eine gute Nacht». Heute wird sie oft von Chinesen fotografiert, nachdem sie ihnen «ni hau» (grüezi) zugerufen hat.
Martha Weber ist sechsmal Grossmutter und viermal Urgrossmutter. Jahrelang genoss sie ihre Enkel. Heute sind diese gross, haben selber Familie und wohnen auf der ganzen Welt verteilt. Die einen leben in Florida, ein anderer macht in London eine Ausbildung als Musical-Darsteller. In der Freizeit ist die 92-Jährige oft und gerne in Engelberg, wo sie zwischenzeitlich acht Jahre lang gelebt hat. Dorthin fährt sie mit dem Saab einer Kollegin, die in Hergiswil wohnt. Sie fährt dann mit dem Zug ins Nidwaldnische und von dort mit dem Auto den Berg hinauf bis nach Engelberg, wo sie ihren Sohn Beat gerne besucht. Er bekoche sie fürstlich, schwärmt sie. Fahren, das tue sie immer noch sehr gerne. Sie erinnert sich an einen Unfall an der Pilatusstrasse, in den 1960er-Jahren, bevor die Kreuzung mit Signalampeln gesichert war. Eine deutsche Fahrerin habe mit ihrem Mercedes ihr kleines, leichtes Auto gerammt, worauf dieses sich überschlagen habe und wieder auf den Pneus gelandet sei. Sie habe nach hinten zur Mutter geschaut und gefragt, wie es ihr gehe. Danach dasselbe ihren Mann Hermann nebenan auf dem Beifahrersitz. Beide versicherten ihr, ihnen fehle nichts, ausser ihre Brillen seien gebrochen. Sogar ihr geliebter Schäferhund blieb bei diesem «Abenteuer» unverletzt. Ein Wunder. Ein ganzes Jahr habe es gedauert, bis die deutsche Versicherung den Schaden beglichen habe. Auch ein Wunder.
Immer in Bewegung
Martha Weber war schon immer eine unerschrockene Frau. Sie ist mit ihrem Mann, der in jungen Jahren passionierter Autorennfahrer war, viel geklettert. Gut und gerne in Österreich, etwa auf die «Mittlere Zinne». Kolossale Bergtouren gehörten nebst dem Skifahren zu den beliebtesten Beschäftigungen des unzertrennlichen Paars. Heute sagt ihr Arzt zu ihr, sie müsse viel laufen, immer wieder. Das macht sie. Täglich. Und sie steht den ganzen Tag, ist immer in Bewegung. Das sei wohl das Geheimnis, jung in Körper und Geist zu bleiben. Martha Weber hat mit 92 Jahren immer noch ein ausgezeichnetes Erinnerungsvermögen: «Ich vergesse nichts!», sagt sie mit Nachdruck und könnte noch lange aus ihrem prallen Leben erzählen.