«Nicht das Alter ist das Problem, sondern unsere Einstellung dazu.»

Demenz ist eines der grossen Themen unserer Zeit. Die dramatische Zunahme der Anzahl Menschen, die unter der Krankheit leiden, fordert uns alle heraus. Welche Modelle und Wohnformen in der Alterspflege eignen sich, welche sind gesellschaftlich und finanziell tragbar? Bart Staring weiss es. Der Leiter Pflegedienst der Heime Kriens AG schöpft aus seiner langen Erfahrung als Pflegefachmann.

TEXT Bruno Affentranger
Lesezeit 8 Minuten

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lbertus Hendrikus Theodorus Maria Staring – der opulente Name passt zur kräftigen Statur dieses freundlichen, 54-jährigen Niederländers und Wahlschweizers. Bart, so sein Rufname, gehört zu jenen Menschen, die eine widerstandsfähige Schale und ein grosses, weiches Herz haben. Bereits im Alter von 15 Jahren begann er eine Ausbildung als Krankenpfleger Geriatrie im niederländischen Dorf Lichtenvoorde bei Arnhem, nahe der deutschen Grenze. Eigentlich wollte er Fotografie und Journalismus studieren, doch erhielt er zu der Zeit kein Stipendium. Krankenpfleger stand nie auf seiner Wunschliste, doch seiner Mutter sollte es recht sein. Die Sozialarbeiterin und langjährige Leiterin der örtlichen «Spitex» prägte in entscheidendem Masse die berufliche Ausrichtung des Sohnes.

Zuvor hatte Bart Staring eine vom niederländischen Staat getragene Grundschule der «liberalen» Art besucht, in der der Dialog, das Spielerische und das selbstständige Lernen mit Jahresplan gefördert wurden. Schon früh unternahm er ausgedehnte Reisen durch Europa und Afrika mit einem Rucksack voller Neugier. Er sei «ein Schaf mit fünf Füssen» gewesen, eine holländische Redewendung, frei übersetzt, die eine Person mit zahlreichen Interessen beschreibt.

Was ist schon normal?
Als er zum ersten Mal in der Schweiz in einem Altersheim gearbeitet habe, sei er sich «irgendwie zwanzig Jahre zurückkatapultiert» vorgekommen, erinnert sich Bart Staring. In Holland sei der Zugang zu den Menschen in der Alterspflege unkomplizierter, irgendwie näher am Menschen. In der Schweiz hingegen, so kam es ihm vor, werde die Pflege zu stark pathologisiert: «Die Schweiz ist normativ, strukturiert, es soll ja kein Risiko eingegangen werden, die Altersheimbewohner sollen schön angepasst bleiben.» Schon immer habe er darüber reflektiert, wie sich die Lebensqualität von älteren Menschen durch die Normalisierung des Alltags verbessern lässt. Was aber normal ist oder nicht, das ist oft individuell und subjektiv.

Jeder Mensch ist geprägt von seiner Sozialisation, von seiner Kultur und den eigenen Erfahrungen. Wir entwickeln eine persönliche Lebensform, die für jeden einzelnen von uns die «Normalität» darstellt. Bart Staring erklärt es an einem Beispiel: «Eine leicht verwirrte Heimbewohnerin beklagte sich darüber, sie stehe unter Strom, könne nicht schlafen. Alles gute Zureden nütze nichts bis auf die erhellende Idee, sie solle mit Gummistiefeln schlafen, um Stromstösse zu vermeiden.» Das habe gewirkt, die Assoziation von Gummistiefeln mit Stromschlägen sei in dieser Generation plausibel.

Das Problem wurde auf simple Weise gelöst. Derart pragmatische Ansätze liegen Bart Staring, der sich lange und intensiv mit dem psychobiografischen Pflegemodell des österreichischen Professors Erwin Böhm auseinandergesetzt hat. Das Modell dahinter: Die Verhaltensweisen von verwirrten und desorientierten Menschen zu erklären, zu verstehen und dadurch eine individuelle, reaktivierende und bewohnerbezogene Pflege zu ermöglichen.

Die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit gewinnt mit zunehmendem Alter an Bedeutung. Die Geschehnisse und Erfahrungen bilden die Basis des eigenen Ichs. Es geht weniger um das objektiv Erlebte, sondern um den subjektiven Sinn, der plausibel erscheint und sich als tragfähig für das Leben angesichts des nahenden Lebensendes erweist. Diese autobiografischen Lebenserinnerungen können wertvoll sein. In der Praxis legt diese «Biografie-Arbeit» an Bedeutung zu.

Eine Ausbildung zum Psychiatriepfleger
Bart Staring musste mit 18 in die niederländische Aushebung, verweigerte aber aus Gewissensgründen den Militärdienst. Er trabte als Jugendlicher vor ein Militärgericht und setzte seinen Kopf durch, handelte für sich beim Verteidigungsministerium eine verkürzte Ausbildung als Psychiatriepfleger in seinem Zivildienst aus. Diese Erfahrung festigte seinen beruflichen Werdegang in der Pflege und ebnete den Weg für den Sprung ins Ausland. Aufgrund seines, wie er meint, «chronifizierten Fernwehs, seiner Abenteuerlust und Neugier nach anderen Kulturen» landete Bart Staring 1989 als 24-Jähriger in der sanktgallischen Höhenklinik Walenstadtberg, ehe er zwei Jahre später im Alters- und Pflegeheim Ilanz eine neue Stelle antrat.

Neben seinen Aufgaben als Stationsleiter war er oft unterwegs auf den Höfen dieser ländlichen Gegend. Er kümmerte sich in psychosozialen Notfall-Situationen um die ländliche, regionale Bevölkerung. Seine unkonventionelle, unkomplizierte Art, mit desorientierten Menschen umzugehen, kam ihm dabei zugute.

Zwei, die sich verstehen: Mit seinem Hund Boreas unternimmt Bart Staring ausgedehnte Wanderungen.

Der Weg in die Zentralschweiz

Sein Netzwerk öffnete ihm die Türen zum Schweizer Paraplegikerzentrum in Nottwil, doch als Pflegefachmann wurde Bart Staring am Sempachersee nicht wirklich glücklich. Das Glück lächelte ihm anderweitig zu: Kaum eine Woche nach seinem Stellenantritt verliebte er sich in die Physiotherapeutin Cornelia. Der «fliegende Holländer» landete definitiv in der Zen-tralschweiz. Der Nomade wurde sesshaft. Bald folgte die Heirat, drei Mädchen kamen binnen Kurzem zur Welt. Seine berufliche Laufbahn führte ihn weiter in Altersheime der Region Luzern, wo er nach und nach grössere Verantwortung in leitenden Funktionen übernahm.

Weil die in Holland erlangten Diplome in der Schweiz nicht anerkannt wurden, holte er die entsprechenden Ausbildungsmodule hier nach, bis zum MAS Gerontologie an der Fachhochschule Bern. Seit 2005 wirkt er in der Heime Kriens AG, die letzten zehn Jahre als Leiter Pflegedienst und Mitglied des Führungsteams.

Für ein lebenswertes Alter

Bart Staring hat sich während seiner Laufbahn stets mit neuen Konzepten und mit dem Böhm-Modell befasst und diese in die bestehenden Heimstrukturen eingebracht. Es ginge im Wesentlichen darum, eine sinnvolle Alltagsgestaltung oder eben einen normalen Alltag zu ermöglichen. Oder auch, wie anschauliche Beispiele aus seinem Heimatland zeigen, anregende Aktivitäten zu initiieren.

In Holland öffnen ehemalige Landwirte ihre Höfe für ältere Menschen mit psychischen Auffälligkeiten als temporären Lebens- und Arbeitsraum. Solche Angebote seien beliebt und landesweit sehr gut vernetzt. «In Holland gibt es eine lange Kultur des Zusammenlebens, vielleicht auch aufgrund der Geschichte als ehemalige Kolonialmacht und dem Kontakt mit anderen Kulturen und Mentalitäten», sagt Staring. Möglicherweise sei dies ein Grund für die Aufgeschlossenheit der niederländischen Gesellschaft gegenüber neuen Formen des Zusammenlebens.

Moderne Volkswirtschaften hätten den direkten Bezug zur älteren Generation verloren, gibt er zu bedenken und wirkt dabei aber keineswegs moralisierend. Die Alterspflege sei – vorab in der Schweiz – hervorragend aufgestellt bezüglich Pflege, Organisation und Einsatz der Mittel. Der Fokus liege aber oft nur auf dem Pathologischen und dem Gebrechlichen und weniger auf den Möglichkeiten, die ein lebenswertes Alter durchaus zu bieten hat.

Anstatt nur immer neue «Alters-Silos» aufzustellen, müssten wir darüber nachdenken, wie wir neue Wohnkonstellationen bilden, in welchen die soziale Beziehung im Vordergrund steht: «Nicht das Alter ist das Problem, sondern unsere Einstellung dazu.»

Demenz als Herausforderung

Beim Thema Demenz wird Bart Staring nachdenklich. Schon der Begriff, streng für sich genommen, regt ihn auf: «Weg vom Geist, das heisst im Grunde Demenz, geistlos also. Für mich eine respektlose Begrifflichkeit!» Auch stehe hier immer die Krankheit im Vordergrund: «Wir richten geradezu alles danach.»

So spreche man beispielsweise von Alzheimer-Nachmittagen oder Alzheimer-Tanzkaffees. Staring stört sich auch am Begriff «Demenz-Strategie», als ob es sich dabei um einen Krieg handelte: «Lass uns der Demenz den Kampf ansagen», lästert er etwas spöttisch. Und weiter: «Als ob wir überhaupt eine Chance hätten. Diesen imaginären Krieg haben wir bereits im Voraus verloren.»

In der Tat: Derzeit sind in der Schweiz über 150 000 Menschen an Demenz erkrankt. Davon betroffen sind auch gegen eine halbe Million Angehörige. Allein in der Zentralschweiz leben rund 11 000 demente Menschen, Tendenz steigend. Die Zahl an Demenz erkrankter Menschen wird sich in der Schweiz allein schon durch den demografischen Wandel bis ins Jahr 2060 auf über 300 000 verdoppeln.

Gegen diese Entwicklung könne man nicht kämpfen. Man müsse lernen, so Staring, damit umzugehen. Niederschwellige Angebote in Quartieren, wie sie heute schon existierten, seien ein guter Weg dazu, von Demenz betroffene Menschen nicht sozial zu isolieren beziehungsweise «bis zum Tod zu pflegen».

Die Heime in Kriens liegen beispielsweise mitten im Zentrum der Stadt, mitten im Leben. Die Heimbewohnerinnen und -bewohner kommen in direkten Kontakt mit der Bevölkerung, nicht nur mit den zu Besuch anreisenden Verwandten.

Die Heime erweitern ihr Wohnangebot im Frühling und Herbst dieses Jahres mit dem Aufbau von zwei zusätzlichen dezentralen Wohnformen für jeweils 21 Menschen. Für Bart Staring ist dies der richtige Weg: «Die neuen Lebensräume bieten die Möglichkeit für vielfältige Begegnungen, auch im engen Kontakt mit der Krienser Bevölkerung.» Ältere Menschen mitten unter uns als Teil unserer Gesellschaft – das ist richtig