Flat Earther sind «glatti Sieche»

Wir leben in einer seltsamen Zeit. Skurrile «Wahrheiten» kursieren und florieren. Ein Versuch, Verschwörungstheorien und deren Hintergründe zu verstehen.

TEXT angel gonzalo
Lesezeit 5 Minuten

Es gibt Menschen, die glauben, dass die Erde keine durch die Pole abgeflachte Kugel, sondern eine Scheibe ist. Dass die Erde flach ist. Flat Earther oder – niedlicher – «Flatter» nennen sie sich, «Terraplanisten» ist der sozialwissenschaftliche Begriff. Es kann sich nicht um Unkenntnis handeln: Diese Menschen, zumindest die meisten davon, haben vermutlich das Sonnensystem und seine Planeten in der Schule behandelt, aber sie haben sich dafür entschieden, dass diese Kugelsache eine gigantische Manipulation ist. Untersuchungen zeigen: Nur 66 Prozent der 18- bis 24-Jährigen in den USA sind sich völlig sicher, dass wir auf einem kugelförmigen Planeten leben (bei den 25- bis 34-Jährigen sind es 76 Prozent).
Verschwörungsdenken hat möglicherweise Vorteile. Es gibt uns ein irrationales Gefühl der Kontrolle, eine Gewissheit, dass die Welt auf einer einfache Formel basiert. Zugegeben: Es fällt uns schwer zu akzeptieren, dass wir Dinge nicht verstehen. Wir ziehen oft eine schlechte Erklärung der Unsicherheit vor. Und wir glauben, dass grosse Probleme grosser Erklärungen bedürfen. Etwa bei der Ermordung von J. F. Kennedy: Es kann doch nicht sein, dass diese Ermordung nur das Werk eines allein handelnden Sonderlings war – es muss doch etwas Mächtigeres dahinterstecken.

In einer Welt, die sich immer schneller bewegt, immer schwerer zu verstehen ist und in welcher bisherige Gewissheiten bröckeln, bieten Verschwörungsgruppierungen ihren Anhängern eine vermeintlich solide Realität, an die sie sich klammern können. Darüber hinaus entkommen sie dem grauen Alltag und fühlen sich dadurch besonders wach, ja gar aufgeklärt und – ähnlich wie zum Beispiel in einer Serie mit konspirativem Inhalt auf Netflix – im Besitz eines «Geheimnisses», das der Mehrheit vorenthalten wird. Eine Mehrheit notabene, die sie als Schäfchen, als Opfer oder Manövriermasse eines bösen Staates oder einer dunklen Organisation betrachten.
Verschwörungstheoretiker sind nicht von einer Geisteskrankheit befallen, sie verfügen nur über bestimmte Eigenschaften, die sie anfällig für «kreatives Glauben» oder «alternative Wahrheiten» machen: Sie sind gut darin, Muster zu erkennen, nehmen Absichten wahr, auch wenn es keine gibt, sind misstrauisch und haben mitunter ein schwaches analytisches Denkvermögen. Es ist vermutlich wahrscheinlicher, dass eine Person mit einem niedrigen Bildungsniveau in diese Überzeugungen verfällt, doch auch Menschen mit Universitätsabschluss sind davon betroffen. Teil einer Gemeinschaft zu sein, die sich aufeinander bezieht und sich gegenseitig unterstützt, macht diese konspirativen Umgebungen zusätzlich attraktiv.

Inhalte zu verifizieren wäre wichtig
Verschwörungstheorien werden von wahnhaften Köpfen zu Fakten geschmiedet. Wir leben in Zeiten der «Infodemie» und sehen uns mit einer Informationslawine konfrontiert, in der sich Wahres und Falsches, Relevantes und Unsinniges vermischen. Zugang zu einer grossen Menge an Informationen zu haben, bedeutet nicht, dass wir besser in der Lage sind, diese zu filtern. Wohl das Gegenteil ist der Fall. Gerade digitale Plattformen sollten mehr Wert auf die Verifizierung der verbreiteten Inhalte legen. Es ist wichtig, diese Theorien an der Quelle zu bekämpfen. Es ist ebenso wichtig, vor allem für die Medien, Verschwörungstheoretikern keine Stimme zu geben, sie nicht einmal zu diskreditieren oder sie zum Gegenstand von Witzen zu machen. Das tue ich ja gerade, aber dieser Text ist nicht für solche Menschen bestimmt ... Eine derartige Aufmerksamkeit würde ihre Überzeugungen und ihre Gemeinschaft zusätzlich stärken. Ja, sie könnten sich dadurch gar als Opfer von Schikanen betrachten, weil sie der Verschwörung auf der Spur gekommen sind. Damit erfüllt sich offenbar die Prophezeiung, dass es eine Verschwörung gegen sie gibt, gleich von selbst.

Gläubig werden durch YouTube
Aber zurück zu den Terraplanisten mit einem Cartoon-Witz: Kopernikus, der Vater der Idee, dass die Erde die Sonne umkreist, gibt endlich zu, dass er falschlag, nachdem er fünf Stunden damit verbracht hatte, sich Terraplanisten-Videos auf YouTube anzusehen. YouTube ist der Schlüssel dazu. Alle Terraplanisten werden zu Terraplanisten, indem sie anderen Terraplanisten auf YouTube zusehen – das geht glatt durch. Und wenn sie erst einmal Teil dieser Gemeinschaft sind, ist es fast unmöglich, sie von ihrem Irrtum zu überzeugen, weil mächtige psychologische Mechanismen aktiviert werden wie etwa das «motivierte Denken» (motivated reasoning): Ich akzeptiere nur die Daten als gültig, die mich bestätigen – der Rest sind Manipulationen der Verschwörer. Wie in anderen Bewegungen, etwa QAnon, gilt: Wenn die Wissenschaft mich widerlegt, bedeutet dies, dass die Wissenschaft gekauft ist. QAnon wird so zum Sinnbild abstruser Verschwörungen, aber auch der Gefahren ungefilterter Kommunikation im Internet, des Mangels an Bezugspersonen für den Menschen, des Bedürfnisses nach Gemeinschaft in individualistischen Zeiten, der unerwünschten Auswirkungen politischer Polarisierung, der Manipulation der Massen und wie leicht es ist, gedanklich in eine dystopische Zukunft abzudriften.

Sicherheit durch vereinfachte Weltsicht
Natürlich leben wir in unsicheren Zeiten, und Ungewissheit macht, dass wir uns unbehaglich fühlen. Diese kognitiven Dissonanzen zwingen uns dazu, unsere eigene Geschichte von Guten und Bösen zu erschaffen, die die komplexen Phänomene der heutigen Zeit vereinfachend erklärt. Und das versetzt verschwörungsaffine Menschen in die heroische Rolle von Kämpfern für die verborgene Wahrheit: Verschwörungsglaube war schon immer mit einem gewissen kollektiven Narzissmus verbunden – die anderen sind die Schafe! Darüber hinaus neigen Menschen mit einer Tendenz, verborgene Muster und Bedeutungen in der Realität zu sehen, eher dazu, an Verschwörungen und paranormale Phänomene zu glauben. Vor diesem Hintergrund finden sich psychologische Mechanismen wie der Proportionalitätsbias (wenn etwas Aussergewöhnliches passiert ist, muss etwas Aussergewöhnliches die Ursache sein) und der Intentionalitätsbias (hinter allem steckt eine lenkende Hand). Es geht um den Wunsch nach «geordneten» Erzählungen, die Sicherheit und eine vereinfachte Sicht auf die Welt bieten. Das kann Trost spenden und das Gefühl vermitteln, dass das Leben besser zu bewältigen ist. Terraplanisten sehen sich so besser in der Lage, durch die Höhen und Tiefen des Lebens zu navigieren, indem sie an eine «glatte» Realität glauben.