Effizienter ohne Boss
Stellen Sie sich eine Arbeitswelt ohne Hierarchien und ohne fixe Büros vor. Ohne endlose Meetings. Ohne Chefs. Willkommen in der Holakratie, einer neuen Arbeitskultur, die so neu im Grunde gar nicht ist. Der in Luzern ansässige Arbeits- und Organisationspsychologe Daniel Sigrist coacht Unternehmen auf dem anspruchsvollen Weg in Richtung sich selbstorganisierender Teams.
Der amerikanische Informatiker Brian Robertson hat noch nie in einer Personalabteilung gearbeitet. Er ist stets vor Bürokratien geflohen, mochte keine Chefs. Der freie und dynamische Geist, den Unternehmer im Blut tragen, führte ihn 2008 zur Entwicklung eines «Selbstbestimmungsmodells», das er Holakratie nannte.
Die begriffliche Nähe zur Demokratie ist gewollt. Bloss: Anstelle von Volksmacht geht es hier um Mitarbeitermacht. Es dreht sich also vielmehr um Selbstbestimmung als nur um Mitbestimmung.
Der idealistische Unterbau dieses Unternehmensmanagementsystems, das die gängige Praxis der Führungskräfte abschafft und durch verteilte Autorität und Peer-Evaluationen ersetzt, geht auf den französischen Philosophen Auguste Comte zurück. Dieser prägte Ende des 19. Jahrhunderts den Begriff Soziokratie. Soziologen entwickelten diese Denkhaltung weiter als eine denkbare Form der Regierung oder des Managements, die von einer Gleichberechtigung der Individuen ausgeht und auf Konsent beruht (Konsent = wenn kein schwerwiegender Einwand vorliegt).
Dahinter steckt das Prinzip, wonach eine Entscheidung getroffen werden kann, wenn keiner der Anwesenden einen begründeten Einwand im Sinne der gemeinsam bestimmten Ziele hat. Soweit der historische und gedankliche Hintergrund. Die konkrete Umsetzung in die Unternehmensführung und Managementpraxis ist kein leichtes, aber ein lohnendes Unterfangen, wie der Organisationsberater Daniel Sigrist aus eigener Erfahrung weiss.
Die Zeit ist reif
Der 34-jährige Daniel Sigrist beschäftigt sich schon lange mit dem Thema «wertorientierte Führung». Die seit 2014 aufgekommene Bewegung um die Begriffe «Reinventing Organizations» und «Responsive Organizations» habe ihn auf seinem weiteren beruflichen Werdegang als Personal- und Organisationsberater und nun als selbständiger Coach in unternehmerischen Organisationsfragen geprägt. Der Wertewandel sei sicher mitentscheidend für den Erfolg von solchen partizipativen Modellen, sagt Sigrist.
Er, der sich der Generation Y zugehörig fühlt, sieht die Selbstbestimmung als Triebfeder menschlichen Tuns: «Die phonetische Anlehnung im Englischen von Y zu why – warum – bestimmt gewissermassen die Geisteshaltung einer Generation, die sich zunehmend Fragen stellt nach Sinnhaftigkeit und Werthaltung.» Heute sehen wir uns mit einem kulturellen Wandel im Arbeitsleben konfrontiert. Mit den Möglichkeiten der Digitalisierung ändern sich die Ansprüche an den Job und vor allem auch an die Führung. Es ist absehbar, dass sich traditionelle Unternehmen und Angestelltenverhältnisse verändern und die Menschen projektbezogener und in Teams arbeiten.
Für Sigrist sind auch die Beschleunigung und Komplexität in der Wirtschaft sowie die Bedrohung durch disruptive Businessmodelle prägende Faktoren, wenn es darum geht, Unternehmen oder Organisationen unter erschwerten Bedingungen voranzubringen. Die Unsicherheit ist latent in einer Welt, die zusehends sprunghafter, unsicherer, komplexer und daher auch mehrdeutiger wird. Das überfordere bisweilen Unternehmen und Organisationen, glaubt Sigrist. Eine Antwort auf diese Komplexität sieht er in der Einführung dezentraler, sich selbst organisierender Teams, die befreit sind von starren, hierarchischen Strukturen.
Und ja, solche Modelle funktionieren in der Praxis, wie mittlerweile viele erfolgreiche Beispiele belegen.
Autonomie und Verantwortung
Die Unternehmen befinden sich heute in einem Wettlauf, agiler und moderner zu werden. Insofern scheint das Holakratiesystem mit der Neuzeit verbunden zu sein, in der die Unternehmen offen für Ideen, Talente und freie Mitarbeitende sein müssen und bereit sind, sich schnell an Veränderungen anzupassen und Bürokratien abzubauen. Überträgt man den Mitarbeitenden mehr Autonomie und Verantwortung, braucht es auch die entsprechende Führungskultur dazu. Für Sigrist geht es dabei um eine wertorientierte. Paradoxerweise verhält es sich so, dass je flacher die Organisation ist, umso mehr «Führung» notwendig wird – nur eben in einer anderen Art. Vielmehr sei eine sinn- und kulturstiftende Führung angezeigt, bekräftigt Sigrist. Dabei gehe es nicht um einen Mangel an Autorität, sondern um deren Verteilung. Ein derart umprogrammiertes Unternehmen zieht wohl auch eine andere Art Mitarbeitende an. Solche, die – bemächtigt zur aktiven Partizipation – aus eigenem Antrieb eher motiviert sind, im Sinne der Firma zu handeln.
Strukturen und Regeln
Wie aber funktioniert Holakratie? Holakratie ersetzt Stellenbeschreibungen durch Rollenbeschreibungen. Eine Person kann zu einem bestimmten Zeitpunkt mehrere Rollen haben. Diese Rollen werden über einen kollektiven Governance-Prozess regelmässig überprüft und bei Bedarf weiterentwickelt. Damit stellt man die Anpassung an die sich ständig ändernden Anforderungen des Unternehmens sicher.
Das System «ernährt» sich von einer kreisförmigen Synergie, in der die Figur des klassischen Managers verschwindet, dafür aber die nach Rollen organisierten Gruppen (in der Holakratiesprache: Kreise) wachsen beziehungsweise an Bedeutung gewinnen. So viel zur Theorie.
Für Daniel Sigrist ist dies ein pragmatischer Ansatz, weil das System nach konkreten Regeln funktioniert und auf klaren Prinzipien beruht: «Es ist wie ein kollektives Commitment zur Lösung von anstehenden Aufgaben, wie sie in Unternehmen und Organisationen vorkommen.» Er arbeitet als Coach mit Teams und Organisationen, die sich in Richtung selbstorganisierte Teams entwickeln möchten: «Ich begleite Kulturveränderungsprozesse, welche in der Regel primär wertegetrieben sind und von der digitalen Transformation gestützt werden.» So hat er zum Beispiel für ein Luzerner Versicherungsunternehmen eine Abteilung im Experimentieren mit Ansätzen aus der Holakratie begleitet. Im Auftrag von zwei Gründern eines KMU, die ihre Rolle als Chefs nicht mehr ausüben wollten, hat er mit dem Team an der Förderung von Selbstorganisation gearbeitet.
Daniel Sigrist ist seit drei Jahren als selbstständiger Berater unterwegs und operiert vorwiegend in der Deutschschweiz. In der Schweiz gibt es eine wachsende Anzahl von Unternehmen, welche mit selbstorganisierten Teams arbeiten. So hat etwa das Design-Unternehmen Freitag dieses Führungsmodell bereits im Jahr 2016 für sich entdeckt und Holakratie als «organisatorisches Betriebssystem» eingeführt. Dies mit der Absicht, Autorität zu verteilen, Entscheidungsprozesse zu vereinfachen, Hierarchien abzubauen und die konsequente Ausrichtung auf den Sinn und Zweck der Organisation zu erhöhen.
Derzeit steht auch bei Novartis ein radikaler Wandel an: CEO Vasant Narasimhan will im Pharmakonzern Hierarchien abbauen und den Giganten mit weltweit über 130 000 Mitarbeitenden in eine Hochleistungs-Organisation verwandeln. Dabei soll die Eigenverantwortlichkeit der Mitarbeitenden gestärkt werden – «unboss your company», dieser etwas lapidare Grundsatz steht hier Pate.
Im Moment ist es noch zu früh abzuschätzen, ob die Arbeitskultur der Holakratie in den kommenden Jahren vorherrschen wird. Für Daniel Sigrist ist sicher: «Die Einführung einer Holakratie-Kultur in einem Unternehmen ist eine grosse Herausforderung, welche sich aber für viele Unternehmen lohnen kann.»