Schweine in Raum und Zeit

Jährlich werden in der Schweiz 2,7 Millionen Mastschweine geschlachtet. Die Hälfte davon haust in engen Ställen und ohne Auslauf. Der Luzerner Unternehmer Oliver Hess ändert dies grundlegend und stellt sich eine Welt ohne Transporte von lebenden Tieren vor.

TEXT Angel Gonzalo
Lesezeit 10 Minuten
Eine veritable «Schweine­residenz», bestehend aus einem permanent zugänglichen Wühlbereich, ­einer grossen, überdachten Wühlarena, ­einer Schwimm­suhle und einer Wiese mit Bäumen.

Das Gepolter geht nun schon den ganzen Tag und hallt quer durch den Schweinestall, schwappt über zum «Spielplatz» mit Schwimmbassin bis hin zur saftigen Wiese in Schüpfheim im idyllischen Entlebuch, wo die Schweine nach Herzenslust herumtollen. Ein ergreifender Moment für Oliver Hess (47), Erfinder und CEO der Wiesenschwein AG, die er vor zwei Jahren gegründet hat. Die Schweine grunzen und quieken, rüsseln und buddeln auf der Wiese und suhlen sich in der Erde, dass es eine wahre Freude ist.

Eine Frage der Haltung
Ein solcher Anblick spricht Bände: «Genauso soll es sein», meint Hess, der eine kompromisslose Haltung zur Frage hat, was eine tiergerechte Haltung sein soll. Er spricht aus Erfahrung, er weiss genau, worum es geht. Im Jahr 2009, nach einem bewegten Leben als «serial entrepreneur», wie er schmunzelnd sagt, zog es den gelernten Offsetdrucker in den Schweinestall. Zuvor war er Schafhirte, Herdenschutz-Beauftragter des Bundes mit einer besonderen Affinität zum Konfliktdreieck «Schaf–Bauer–Wolf», Erfinder des Baumhauses in Hildisrieden sowie Gründer des Outdoor-Fachgeschäfts Outside (heute Transa). 

Bald darauf wurde der Tausendsassa sein eigener Herr und Meister über 1500 Schweine. Einfach so, aus purer Lust, etwas Neues anzufangen. Das war der Beginn
einer Liebesgeschichte, die bis heute anhält. Das war auch der Startschuss, seine Idee einer neuartigen Schweinehaltung in die Realität umzusetzen. Geboren ist diese aus der räumlichen Not. Der Boden in diesem Land ist beschränkt und daher teuer.

In der Schweiz werden jährlich 2,7 Millionen Schweine gemästet und geschlachtet. Die Hälfte davon haust in traditionellen Schweineställen, eng zusammengepfercht und ohne Auslauf. Diese traditionelle Tierhaltung folgt ökonomischen Kriterien, zumal viel Bewegungsfreiheit Flächen benötigen würde, die in der Schweiz gar nicht vorhanden sind. Beseelt von der Idee, dass Schweine im Grunde neugierige und gesellige Tiere sind, die Freilauf brauchen, machte er sich daran, mit Hilfe von Sensoren und Kameras die Schweinehaltung in Richtung Wiesenhaltung zu revolutionieren. 

Der Grundgedanke ist ein einfacher: Weil Schweine, so Hess, zwischen 16 und 18 Stunden am Tag ruhen, sollte es doch möglich sein, die vorhandene aktive Zeit optimal zu nutzen. Dies ist dem stets lösungsorientierten Tüftler mit einer ebenso bestechenden wie einfachen Idee gelungen: eine veritable «Schweineresidenz», bestehend aus einem permanent zugänglichen Wühlbereich, einer grossen, überdachten Wühlarena, einer Schwimmsuhle und einer Wiese mit Bäumen. Voilà!

Die optimale Zeit-Raum-Nutzung besorgt ein automatisiertes System mit Eingangstoren, Sensoren und Kameras, das die diversen Ställe zeitlich gerafft bedient und somit die verschiedenen Schweinegruppen ins Freie lockt. Der permanent zugängliche Wühlbereich ist im «Balkon» (Auslauf) des Stalles eingerichtet. Dieser steht den Schweinen jederzeit zur Verfügung. Angrenzend an den Auslauf befinden sich die überdachte Wühlarena inklusive der Schwimmsuhle mit Zugang zur Wiese.

Die Freilaufflächen der Wühlarena und der Wiese sind den Tieren hingegen zeitlich begrenzt zugänglich. Auf diese Weise werden sie täglich von mehreren Schweinegruppen abwechselnd genutzt. Die Schweine bewegen sich in Gruppen. Deshalb erhält jedes einen individuellen Ton mit drei verschiedenen Frequenzen zugeteilt. Die Schweine sind auf ihren Ton konditioniert – wenn das Piepsen ertönt, gibt es Futter. Ohne diese Konditionierung wäre es nicht möglich, die ganze Gruppe zu steuern. «In der Regel dauert es drei Tage, bis sich die Schweine den Ton merken und darauf reagieren», weiss Oliver Hess aus seiner Erfahrung mit dem ersten vollautomatisierten Wiesenschweinbetrieb.

Ein wegweisendes Businessmodell
Franz Studer ist der erste Landwirt, der das Wiesenschwein-Modell auf seinem Betrieb in Schüpfheim anwendet. Er besitzt zehn Buchten mit je dreissig Mastschweinen. Jede Gruppe verbringt jeweils am Morgen und am Nachmittag rund eine Stunde auf der Freilauffläche. Die Investition im Vergleich zur traditionellen Tierhaltung entspricht einem Faktor von rund 1,3, das sei gemäss Oliver Hess in einem vernünftigen Zeitrahmen amortisierbar, zumal die erzielten Fleischpreise auch höher ausfielen. 

Die bislang gemachten Erfahrungen sind vielversprechend. Bereits im letzten April wurden die ersten Wiesenschweine geschlachtet und in einzelnen Coop-Filialen zum Verkauf angeboten. Das Fleisch werde auch von vereinzelten Gastrobetrieben im Sortiment gehalten, so zum Beispiel im Bürgenstock-Resort, freut sich Oliver Hess.

Das sei aber nur der Anfang, meint er, der eine klare Vorstellung hat, wohin der Weg gehen soll. Sein Businessmodell beruht auf einem Marken-Nutzungsrecht seines geschützten Wiesenschwein-Labels. Oliver Hess möchte sein Unternehmen indirekt, sozusagen als Franchisegeber, am Erfolg beteiligen: «Unser Unternehmen verdient nicht an der Technik oder am Fleischverkauf im Sinne eines Zwischenhandels.» Für ihn stehen das Tier, der Bauer und der Konsument klar im Vordergrund: «Das Schwein soll möglichst artgerecht und anständig gehalten und geschlachtet werden. Der Bauer soll dabei ein gutes Gefühl haben und eine Garantie für stabile Fleischpreise, fern der Börsenkotierung, erhalten. Darum geht es mir im Grunde.»

Entscheidend sei im Endeffekt, dass der Konsument davon überzeugt werde, dass diese Art von Zucht nachhaltiger und das produzierte Schweinefleisch besser ist. Zu diesem Zweck hat die Wiesenschwein AG Regeln zur Schlachtung und Vermarktung aufgestellt, wodurch der Zwischenhandel ausgeschaltet wird. Das habe ihm nicht nur Freunde beschert. Wiesenschweine gibt es nur am Stück oder höchstens als halbes Tier. Bevor das Fleisch in den Verkauf gelangt, muss es mindestens zehn Tage hängen. Für Oliver Hess ist klar: «Das garantiert eine gewisse Qualität und ­verlangt eine achtsamere Haltung vom ­Metzger.»

Eine handfeste Vision
Hess möchte den Transport von ­lebenden Tieren am liebsten heute schon verhindern. Sein Ziel ist, dass Schweine mit dem Label «Wiesenschwein» dereinst direkt auf dem Hof geschlachtet und ihr Fleisch erst dann zu den Verkaufsstellen gelangt – «den Tieren einen würdigen, stressfreien Tod ermöglichen», nennt er das.

Das System funktioniert, den Schweinen scheints zu gefallen. Bereits 26 Projekte sind in der Schweiz in der Pipeline, die entsprechenden Baubewilligungen teilweise eingereicht. Auch deutsche und österreichische Schweinezüchter sind auf das Modell aufmerksam geworden und schielen neugierig in die Schweiz. Oliver Hess ist dies nur recht. Bis Ende 2020 möchte er mit zehn Produzenten rund 10 000 Wiesenschweine in der Schweiz auf diese Weise halten. Das entspreche lediglich 0,37 Prozent der in der Schweiz jährlich geschlachteten Schweine. Es sind vorerst kleine Schritte auf dem Weg in
eine tiergerechtere Haltung von Mastschweinen. Dessen ist sich Oliver Hess bewusst, der sich nicht als Weltverbesserer aufspielen will, sich dennoch mit Vehemenz und viel Enthusiasmus für sein Anliegen einsetzt.

 

Der Konsument soll davon überzeugt werden, dass diese Art von Zucht nachhaltiger und das produzierte Schweinefleisch besser ist.