Wie vermessen ist denn das?

Alles klar bisher – aber jetzt denken wir doch einmal das Gegenteil

TEXT Angel Gonzalo
Lesezeit 4 Minuten

Wir erinnern uns mit Grauen an die Physikstunde – oder zumindest die meisten von uns tun es: Die Heisenbergsche Unschärferelation in der Quantenphysik besagt, dass Position und Geschwindigkeit eines Elementarteilchens nicht gleichzeitig bekannt sein können. Während wir die Messung der Teilchen-Position verbessern, verschwindet unser Wissen über seinen Impuls. Das heisst: Das genaue Wissen darüber, wo sich ein Teilchen befindet, schliesst jede Möglichkeit aus, seinen Impuls und seine Richtung festzustellen. Oder etwas salopp formuliert: Entweder weiss man, wo man ist, aber nicht, wohin man geht. Oder man weiss, wohin man geht, aber nicht wo man ist. Eine völlig verwirrende Angelegenheit.

Algorithmen wissen es
Zum Glück haben wir die Algorithmen, die offenbar wissen, wo wir stehen und wo es langgeht. Sie haben das Potenzial, jeden Aspekt unseres Lebens zu messen beziehungsweise daraus Zusammenhänge abzuleiten und Trends zu erkennen. oder Aktionen zu empfehlen: von der Wahl des Weges, den wir morgens einschlagen müssen, um zur Arbeit zu kommen, über die Entscheidung, welche Person wir treffen müssen oder was wir einkaufen sollen, bis hin zu komplexen rechtlichen Fragen – zum Beispiel im Zusammenhang mit vorhersehbaren Delikten.
Algorithmen nehmen Daten auf, geben sie in ein mathematisches Modell ein und machen Vorhersagen. Etwa solche, welche Lieder jemand mögen könnte oder im krassen Fall, wie lange jemand im Gefängnis verbringen sollte. Diese Modelle werden auf der Grundlage von Vergangenheitsdaten und dem Erfolg früherer Modelle entwickelt und verfeinert. Die meisten Menschen – nicht selten sogar die Algorithmen-Designer selbst – wissen nicht wirklich, was im Modell vor sich geht.
Forscher sind seit Langem besorgt über die «algorithmische Gerechtigkeit», oder über die Ungerechtigkeit, je nach Betrachtungsweise. So übersah beispielsweise das von Algorithmen gelenkte Rekrutierungstool von Amazon weibliche Kandidaten. Das Amazon-System zog selektiv Wörter mit einer impliziten Geschlechterverzerrung heraus: etwa «ausgeführt» und «gefangen», die Männer eher verwenden.
Andere Studien haben gezeigt, dass Gerichtsalgorithmen eine rassistische Tendenz haben können und schwarze Angeklagte aus ärmlichen Verhältnissen zu längeren Strafen verurteilen.
Grosse Technologieunternehmen wie Google und Facebook nutzen die von Algorithmen getriebene künstliche Intelligenz, um aus dem gigantischen Schatz detaillierter Kundendaten Schlüsse zu ziehen. Dies ermöglicht es ihnen, die kollektiven Vorlieben der Nutzer durch Praktiken wie Mikrofokussierung letztlich in Geld umzuwandeln – eine Strategie, mit der sich Werbetreibende auf spezifische Nutzergruppen konzentrieren.

Die Welt wird immer berechenbarer 
Eine Gesellschaft, ein Lebewesen oder das Internet allein aus den einzelnen Komponenten zu betrachten, bedeutet, einen wesentlichen Teil ihrer realen Grösse ausser Acht zu lassen. Diese Idee steht am Anfang der «Network Science», die versucht, diese komplexen Systeme aus der Sicht der Beziehungen zwischen den Elementen zu untersuchen, aus denen sie besteht. Albert-László Barabási, Direktor des Network Science Institute der Northeastern -University in Boston, USA, ist die Kapazität auf diesem relativ neuen akademischen Gebiet. Die Netzwerkwissenschaft verknüpft komplexe Netzwerke wie Telekommunikationsnetzwerke, Computernetzwerke, biologische Netzwerke, kognitive und semantische Netzwerke sowie soziale Netze miteinander, um daraus neue Erkenntnisse zu gewinnen. Einer der grossen Beiträge von László Barabási auf diesem Gebiet war das Konzept des «frei skalierbaren Netzwerks», in welchem einige wenige Knoten sehr viele, die meisten hingegen sehr wenige Verbindungen bündeln. So funktionieren zum Beispiel derart unterschiedliche «Netzwerke» wie das Web, die Zellen des menschlichen Körpers oder die meisten sozialen Netzwerke, nicht nur jene des Internets. Ihre Anwendungen reichen also von der Medizin über die Informationstechnologie und Biologie bis hin zur Politik und Soziologie. Das ist ein breites Spektrum, ja gar die ganze Welt. Es erscheint wirklich erstaunlich, dass die Netzwerke, die so unterschiedliche Systeme bilden, praktisch identisch sind. Ein Beispiel: Die Menschen sahen einst keinen Zusammenhang zwischen dem fallenden Apfel, den Gezeiten oder dem Mond, der die Erde umkreist. Es war Newton, der herausfand, dass alles auf ein einziges Gesetz reagierte – das der universellen Gravitation. Zugegeben, das Internet unterscheidet sich sehr stark von einer Zelle. Wir sprechen von Computern oder Molekülen, von kabelgebundenen bzw. drahtlosen Verbindungen oder chemischen Reaktionen. Das Eine, der Computer, ist ein paar Jahrzehnte alt und das Andere, die Moleküle, existiert seit Milliarden von Jahren. Doch beide haben erstaunlicherweise eine ähnliche 
Architektur. Das offenbart eine gemeinsame Sprache für Mathematiker, Ingenieure, Soziologen und Biologen, weil sie alle im Grunde von identischen Netzwerken sprechen, obwohl sie unterschiedliche Kenntnisse haben.

Und wie sollen wir Liebe messen?
Diese Wissenschaft der Netzwerke ermöglicht es uns, über ein Ereignis besser Bescheid zu wissen. Die entscheidende Frage ist aber: Kann sie uns auch helfen, dieses vorherzusagen?
Im Grunde ist alles, was messbar ist – und worüber wir objektive Daten haben können – bis zu einem gewissen Grad vorhersehbar. Heute können wir beispielsweise die Mobilität der Einwohner einer Stadt über ihre Smartphones messen und mehr oder weniger genau vorhersagen, wie sie morgen an einem bestimmten Zeitpunkt örtlich verteilt sein werden. Das ist konkret überprüfbar. 
Doch wir können (wohl zum Glück) zum Beispiel nicht messen, wie viele Menschen sich in einer bestimmten Zeit verlieben werden, denn dafür müsste zuerst definiert werden, was Liebe ist – kein leichtes Unterfangen, worüber sich Poeten und Philosophen seit Jahrhunderten die Köpfe zerbrechen.
Um ein Ereignis überhaupt vorherzusagen, muss man so viele Daten wie möglich sammeln. Je mehr wir davon haben, desto präziser wird die Vorhersage sein – denkt man. Heute ertrinken wir fast in einer Datenflut von sozialen Netzwerken und Smartphones oder in den Daten, die etwa von Haushaltsmaschinen, Kühlschränken, Heizungen, Elektroinstallationen und allerlei anderen kommunizierenden Geräten produziert werden, um uns das Leben leichter zu machen. So zumindest die Absicht. Dazu müssen wir unbedingt Gesetze erfinden, die diese «Ereignisse» regeln. Und schliesslich brauchen wir leistungsstarke Computer, die es uns ermöglichen, die gigantischen Berechnungen richtig durchzuführen.
Zurück zum guten alten Heisenberg: Wissen wir, wo wir stehen? Wissen wir, wo es langgeht?
Möglicherweise halten wir uns in Bezug auf die inflationäre Vermessung der Welt, in der wir leben, wohl gescheiter an den Grundsatz des Wirtschaftswissenschaftlers John Maynard Keynes: «Es ist besser, ungefähr richtig zu liegen, als präzise falsch.» Das kann wohl nicht ganz vermessen sein.