Verbunden in der neuen Heimat
Ausländertreffs gehören spätestens seit den 1950er-Jahren, als vorab die Italiener, dann die Spanier und zuletzt die Portugiesen auf der Suche nach Arbeit und Wohlstand in die Schweiz zogen, zum Bild vieler Schweizer Städte. Sie sind im Laufe der Jahre zum beliebten Treffpunkt dieser Emigranten geworden, aber auch jener, die ihr Fernweh nach dem Süden Europas darin stillen. Ein Streifzug durch drei ausgewählte Ausländertreffs in unserer Region.
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assimo Fedele (54) ist seit acht Jahren Wirt der «Colonia Libera Italiana» am Papiermühleweg in Horw. Zusammen mit dem Sekretär dieser traditionellen Vereinigung, Agostino Verta (42), schmeisst er sozusagen den Laden. Ein Lokal, in dem sich jeweils von Mittwoch bis Sonntag Italiener, aber auch viele Schweizerinnen und Schweizer zum Essen treffen. Über 70 Mitglieder zählt die Luzerner Colonia, die seit nunmehr 50 Jahren in Horw beheimatet und ein nostalgischer Treffpunkt für die italienische Gemeinschaft geworden ist.
Gegen den Faschismus
Der Ursprung der «Colonie» geht bis ins ferne Jahr 1925 zurück. In diesem Jahr wurde die erste Colonia Libera Italiana in Genf auf Initiative von aus Italien geflüchteten Antifaschisten gegründet. Der Name «libera» (frei) steht für den Widerstand der Vereinigung gegen das Regime Mussolinis, das die Organisationen der italienischen Emigranten im Ausland politisch bei der Stange halten wollte, indem es die Ernennung von Leitern vorschrieb, die nicht demokratisch von den Mitgliedern gewählt, sondern von den Behörden des Regimes persönlich ausgewählt wurden. Vereinigungen, die sich den Wünschen des Konsuls und damit dem Faschismus nicht unterwarfen, wurden von der italienischen Regierung nicht unterstützt. Rund zwei Jahrzehnte später wurden an verschiedenen Orten in der Schweiz weitere Freie Kolonien gegründet, die sich vor allem nach dem 23. Juli 1943 – dem Tag des Untergangs der faschistischen Diktatur Mussolinis – vervielfachten. Am 21. November 1943 trafen sich die Vertreter der zehn Freien Kolonien Genf, Baden, Zürich, Lugano, Lausanne, Schaffhausen, St. Gallen, Kreuzlingen, Arbon und Grenchen in Olten, um einen Verband zu gründen, der die Aktivitäten der italienischen Gemeinschaften in der Schweiz koordinieren und verbinden sollte, um sie auf einen aktiven Antifaschismus auszurichten, den Flüchtlingen in der Schweiz zu helfen und den Widerstandskampf in Italien zu unterstützen.
Die Schweiz, ein Immigrantenland
Von den 7,5 Millionen Italienern, die zwischen dem Zweiten Weltkrieg und 1976 ausgewandert sind, entschieden sich mehr als zwei Millionen für die Schweiz als neue Heimat. In dieser Zeit wurden die Colonie Libere Italiane zur wichtigsten Organisation der in die Schweiz emigrierten italienischen Arbeiter. In den 1970er-Jahren förderte der Verband, in dem mehr als 120 freie italienische Kolonien zusammengeschlossen waren, wichtige soziale und politische Initiativen nicht nur zugunsten der italienischen Gemeinschaft, sondern auch anderer ausländischer Gemeinschaften. Zu diesen Aktivitäten gehörten etwa der Kampf für die Familienzusammenführung und gegen den Status der Saisonarbeiter sowie für die Rechte der demokratischen Beteiligung in der Schweiz. Mit Veranstaltungen, Konferenzen, Filmabenden, Theater- und Musikaufführungen leistete die Vereinigung der Colonie Libere Italiane auch einen essenziellen Beitrag zum kulturellen Leben der italienischen Emigranten.
Leidenschaft und Italianità
Massimo Fedele ist sich dieser Geschichte bewusst, er ist ein Teil von ihr, wenn er auch «erst» seit 1990 in der Schweiz lebt. Heute führt er als Wirt sein eigenes Restaurant Da Massimo in Cham. In Horw, in der geschichtsträchtigen Papiermühle, hat er einen Ort gefunden, der ihm behagt: «Leidenschaft, das ist es wohl, was mich dazu bringt, hier zu kochen und an den Events teilzunehmen.» Leider musste das Lokal während sechs Monaten wegen der Pandemie seine Tore schliessen, mittlerweile sei aber etwas Normalität zurückgekehrt. Agostino freut sich schon jetzt auf kommende Ereignisse, wie etwa die traditionelle Castagnata im Herbst, wenn sich alles kulinarisch um die Kastanie dreht. Von den Mitgliedern sind rund 40 Prozent Schweizer, was für Agostino und Massimo auch ein Beleg dafür ist, dass in der Vereinigung die Grenzen zwischen den ehemaligen Migranten und der einheimischen Bevölkerung nun durchlässig sind. Ein Phänomen, das sich in anderen Vereinigungen bestätigt. «Unsere Schweizer Freunde lieben wohl die Italianità, das bisweilen etwas laute Lokal – etwa wenn Karten gespielt wird – und vor allem das einfache, gute Essen», betont Massimo, der mit Leidenschaft kocht. In der Tat, hier findet der Gast ein traditionelles italienisches Essen ohne Schnickschnack, halt so, wie der Italiener zu Hause isst. Und das ist ja meistens sehr gut. Die Preise sind moderat, das ist nicht nur ein tradiertes Gebot, sondern ein Prinzip.
«Little Spain» in Luzern
Die «Asociación de Inválidos y Pensionistas Españoles de Lucerna» (Verband spanischer Invaliden und Rentner von Luzern), unscheinbar im Areal des Luzerner Kulturlokals «Schüür» gelegen, ist eine etwas sperrige Bezeichnung für eine Institution, die sich im Laufe ihrer langjährigen Geschichte durch ihre Offenheit ausgezeichnet hat und es immer noch tut. Gegründet wurde der Verein 1979, in einer Zeit, da es in Luzern nur so von spanischen Gastarbeitenden wimmelte. Über 600 Mitglieder stark war der Verein in seiner Blütezeit. Damals lebten und arbeiteten über 300 000 Spanierinnen und Spanier in der Schweiz. Das «Centro» war nicht nur ein Stück Heimat, vorab für Andalusier, Galizier oder Extremadurer, sondern auch eine soziale Einrichtung, die sich um die Belange der meist aus einfachen Verhältnissen stammenden Gastarbeiter und deren Familien kümmerte. Dabei ging es nicht nur um Übersetzungsdienste oder administrative Hilfestellungen, sondern auch um zwischenmenschliche Beziehungen und um den Zusammenhalt. Die ersten spanischen Gastarbeiter kamen in den 1960er-Jahren in die Schweiz, vorab als Saisonniers. Mit der Zeit erlangten die meisten davon den begehrten Status des permanenten Aufenthalts (die unter Emigranten ebenso berühmte wie begehrte Niederlassungsbewilligung C). Der spanische Staat und die Kirche, mittels der Misión Católica Española, förderten zunehmend die spanische Diaspora mit schulischen, kirchlichen und sozialen Angeboten. Das «Centro» wurde fortan zum verlängerten Arm dieser Bemühungen und entwickelte sich bald zu einem beliebten Treffpunkt.
Sozial und zunehmend kulturell
Miguel Sánchez, 1963 in der Nähe von Málaga geboren, ist seit 2003 Präsident des «Centro». Das kommt nicht von ungefähr. 1980 kam er mit 17 Jahren zusammen mit seiner Mutter in die Schweiz. Sein Vater hatte zuvor einige Jahre als Saisonnier gearbeitet und holte, wie so mancher Emigrant jener Zeit, seine Familie zu sich nach Luzern. Der junge Miguel absolvierte vorerst eine Mechanikerlehre im Rahmen eines vom spanischen Staat unterstützten Programms für die Eingliederung junger Spanier. Später, 1987, kam ein Informatiker-Lehrgang hinzu, der ihm ermöglichte, bei der Luzerner Kantonalbank als EDV-Operator einzusteigen. Mittlerweile ist er seit 29 Jahren bei der Concordia in Luzern als Informatiker tätig. Er hat es als Emigrant in der Schweiz zu etwas gebracht, auch dank der Unterstützung der sozialen Institutionen. Dafür ist er heute noch dankbar. Diesen Dank gibt er in seiner Funktion als Präsident des «Centro» zurück, wenn er auch, wie er sagt, im Grunde kaum die Zeit dafür habe. Der mit einer Schweizerin verheiratete Vater von 11 (!) Kindern im Alter zwischen 12 und 31 hat viel um die Ohren, bleibt aber seiner Aufgabe treu. Zusammen mit einem Kassier und einem Sozialarbeiter kümmert er sich seit nunmehr 18 Jahren um die Belange der Spanierinnen und Spanier in Luzern und Umgebung: «Heute zählt unser Verein rund 160 Mitglieder, davon sind sehr viele Pensionierte. Der Bedarf an unseren Dienstleistungen sinkt zunehmend.» Das sei leider so oder zum Glück, je nach Betrachtungsweise. Mittlerweile leben rund 80 000 Spanierinnen und Spanier in der Schweiz, die meisten davon sind gänzlich integriert. «Die meisten meiner Landsleute benötigen heute keine Unterstützung mehr im klassischen Sinn», bemerkt Miguel. Dennoch, der Verein veranstaltet nach wie vor Deutschkurse oder Kurse in Informatik (Excel, Word, Internetnutzung usw.) und in Zusammenarbeit mit der Pro Senectute Luzern gar Gymnastik-Lektionen für ältere Semester. Dafür wird er nach wie vor vom spanischen Staat finanziell unterstützt.
Gesellschaftlicher Schmelzpunkt
Maria Garcia, 1956 in der Hafenstadt Vigo an der Nordwestküste Spaniens geboren, ist als Wirtin im «Centro» für das leibliche Wohl ihrer Gäste zuständig. Die energiegeladene Galizierin ist seit mehreren Jahren die gute Seele in der Küche sowie hinter und vor der Theke. Die gelernte Schuhverkäuferin verliess 1981 mit ihrem Mann das heimische Galizien, wie sie sagt, «aus reiner Reiselust oder Fernweh heraus, nicht etwa aus wirtschaftlicher Not». Ihr Mann hatte eine gute Anstellung in Vigo, sie ebenfalls. Das junge Ehepaar machte bald Karriere im Gastrobereich in Engelberg und Luzern und fühlte sich rasch pudelwohl in der damals für sie noch fremden Schweiz. Diesen Entschluss hat sie bis heute nie bereut, die Schweiz, vorab Luzern, ist ihr ans Herz gewachsen. Und ein grosses Herz, ja, das hat die Mari, wie sie am liebsten genannt wird. Sie habe im Laufe der langen Jahre als Wirtin im «Centro» manchen Bauch einsamer Gastarbeiter, die ohne Familie in der Schweiz arbeiteten, mit iberischen Köstlichkeiten gefüllt. Die Küche ist ihre Leidenschaft, geprägt von einer Grossmutter, die in Galizien lange Jahre ein kleines Gasthaus führte und als hervorragende Köchin galt, und einer Mutter, die als Fischverkäuferin unterwegs war. Ihr Lokal ist ausser Montag täglich geöffnet, jeweils ab 17 Uhr, am Samstag und Sonntag bereits ab Mittag. Die Klientel hat sich im Laufe der Jahre stark gewandelt: Waren es früher vorab spanische Gastarbeiterfamilien, die den Weg ins Lokal fanden, so sind es heute immer mehr Einheimische und andere Ausländer, die den Verlockungen der Tapas nicht widerstehen können und das Lokal in einen gesellschaftlichen, bisweilen lauten Schmelzpunkt der Kulturen verwandelt. Wenn man die kleine Küche hinter der Theke betrachtet, so bleibt es ein Rätsel, wie Mari eine derartige Fülle und Vielfalt dieser kleinen spanischen Häppchen hervorzaubern kann. Das tut sie aber, immer wieder. Das ist pure Freude.
Ein portugiesisches «Centro»
Nach dem Übergang von der Diktatur in die Demokratie mit dem Militärputsch von 1974 und einhergehenden Demontage des langjährigen Diktators Antonio de Oliveira Salazar im Rahmen der «Nelkenrevolution» wanderten viele Portugiesinnen und Portugiesen aus. Heute leben in der Schweiz über 260 000 Menschen mit portugiesischem Hintergrund. Waren die Italiener und Spanier hauptsächlich im Bau tätig, haben sich die Emigrantinnen und Emigranten aus Portugal vorwiegend in der Gastrobranche etabliert. Vorab das Wallis gilt als bevorzugte Region der Lusitaner, die dort unzählige Restaurants und Hotels als tüchtige Mitarbeitende seit den 1980er-Jahren mitprägen.
Im Gegensatz zu den Spaniern und Italienern gelten die Portugiesen eher als zurückhaltende, in sich gekehrte Menschen, vielleicht seelenverwandt mit den Nordwestspaniern aus Galizien, die auch eine ähnliche Sprache sprechen. Trifft man aber auf Damantino «Tino» Martins (47), schlägt einem südländischer Überschwang entgegen. Seit 2015 ist er der Präsident der «Associação cultural e recreativa de Obernau» – will heissen: Kultur- und Freizeitverein Obernau. Die Bezeichnung ist Programm: Beim jungen Centro português, wie Tino seinen Verein der Einfachheit halber nennt, geht es bunt zu und her. «Wir verstehen uns als aktiven Verein, der vieles anbietet, von Lesungen portugiesischer Autorinnen oder Autoren, über Tanzkurse wie etwa Zumba bis hin zur Organisation von Fussballturnieren.» Im Centro wird auch rege Darts gespielt. Es verfügt sogar über ein eigenes Team, das in der Liga A erfolgreich mitmischt. So kommt ein Potpourri von Aktivitäten zusammen, die von den über 200 Vereinsmitgliedern rege genutzt werden.
Ein reichhaltiges Programm
Damantino stammt aus Porto, der malerischen Küstenstadt im Norden Portugals, die ebenso kolossale Weine wie schmackhafte Gerichte hervorzaubert. Dort arbeitete er einige Jahre als Kellner im Service, ehe er 2009 mit seiner Frau Paola Cristina in die Schweiz und nach Luzern zog. Heute arbeitet er als kaufmännischer Angestellter beim Hammer Autocenter in Emmenbrücke. Wie das so üblich ist bei Emigranten, frequentierte er die gängigen Ausländertreffs für portugiesische Gastarbeiter. Gerne erinnert er sich an das legendäre Lokal «Vasco da Gama» im Tribschenquartier, das lange Jahre als Lichtgestalt der Ausländertreffs galt. Bald spürte er das Bedürfnis, sein eigenes Ding zu machen. Mit der Hilfe von Freunden mietete er an der Rengglochstrasse 29 in Obernau bei der Garage Bolzern ein grosses Lokal und leistete ein Jahr lang Fronarbeit bis zur Eröffnung im Jahr 2016. Das Resultat lässt sich sehen: eine solide Bar, ein Fumoir mit Darts-Anlage, ein grosser Saal für Festivitäten aller Art. Die Küche ist genuin portugiesisch. Hier kommt definitiv Portugal auf den Teller. Weine aus dem Alentejo und aus dem Douro-Tal fehlen ebenso wenig wie Vinho Verde oder die Biermarken Superbock und Sagres. Das Lokal ist jeweils am Freitag (ab 18 Uhr) sowie am Samstag und Sonntag ganztags von 10 bis 24 Uhr geöffnet. Die Gerichte von Koch Antonio munden vorzüglich, wodurch das Lokal rege zum Essen besucht wird und eine Reservation zu empfehlen ist. Die Preise sind – wie so üblich bei solchen Zentren – sehr human. Und, wie Damantino betont: «Bei uns sind alle Nationalitäten willkommen!» Na dann, Bemvindos demnächst in der «Associação cultural e recreativa de Obernau».