Future Talk

Die Turner-Ausstellung im Kunstmuseum Luzern ist passé.
Über 70 000 Personen haben sie besucht – das sind weit mehr, als das Kunstmuseum im KKL Luzern in einem normalen Jahr zählen darf.
Was kommt als Nächstes? Und wie kann man das Kunstmuseum
stärken? Wo liegt Potenzial?

TEXT Bruno Affentranger
Lesezeit 5 Minuten

Das Buch hat eben erst den englischsprachigen Markt erreicht. Seit Anfang dieses Monats ist es zu kaufen. Es wird die Städteplaner weltweit inspirieren. Und das Erstaunliche ist: Die Stadt Luzern kommt darin vor. Doch der Reihe nach.

David Sim, der 53-jährige Kreativdirektor des legendären Kopenhagener Planungs- und Beratungsbüros Gehl (siehe Box Seite 37), ist während mehrerer Jahre durch die Welt gereist und hat aufgenommen, was der Grundidee einer «Soft City» entspricht. Der Name ist nicht zufällig gewählt. David Sim will damit bewusst an den Modebegriff der «Smart City» anknüpfen, die derzeit überall als das Heilmittel für alle zum verkehrstechnischen Stillstand gekommenen Städte propagiert wird. Soft, also weich, soll die Stadt werden. Smart auch, aber weicher, und damit vor allem lebensnaher und menschenfreundlicher. Wesentlich an all den vielen Vorschlägen, die Sim im Buch «Soft City. Building Density for Everyday Life» macht, ist eines: Während wir wegen langer Planungszeiten, schwindelerregender Planungsdichte und gut gemeinter demokratischer Prozesse auf die Eröffnung eines neuen, modernen Baus oder eines Quartiers warten, sollten wir bereits mit kleinen, unscheinbaren Massnahmen lebensfreundliche Bedingungen schaffen. Das sei auf einfache Weise möglich, sagt David Sim, und erörtert in unserem exklusiven Gespräch, wie es gehen könnte.

STADTSICHT: David Sim, Sie haben eine lange Erfahrung mit Städtebau weltweit. In welchem Zustand sind Städte heute – gemessen daran, dass sie für Menschen gebaut sein sollten?
David Sim: Lassen Sie mich bei der Beantwortung dieser Frage einen kleinen Umweg nehmen. Ich hantierte schon als Kind gerne mit Legobausteinen und baute mir ganze Städte. Mein Weg war früh vorgezeichnet. Nach meinem Architekturstudium wechselte ich bald zu Jan Gehl nach Kopenhagen. Ich hatte ihn als Dozent in Vorlesungen gehört und war beeindruckt von seinem Ansatz, Städte nach den Alltagsbedürfnissen der Menschen gestalten zu wollen.

War und ist das nicht eine Selbstverständlichkeit?
Nein, das ist es nicht. Das Problem mit der Architektur ist: Sie will immer spektakulär sein, speziell, kunstvoll. Schauen Sie sich Bücher dazu an: Sie zeigen nicht die kleinen Dinge, sondern das grosse, moderne Ganze, die gewagten Formen, eine überwältigende Ästhetik. Dabei geht oft der wichtigste Grundanspruch vergessen, dass Bauten und städtische Umgebungen vor allem uns Menschen das alltägliche Leben einfacher gestalten sollten. Urbanisation wiederum dreht sich nicht um Form oder Architektur, es geht vielmehr um die simplen Dinge.

Zum Beispiel?
Sie finden diese einfachen Dinge in den Antworten zu solchen Fragen: Wie kann ich eine Strasse überqueren? Was schützt mich vor dem Wind? Wo werde ich vor Regen abgeschirmt? Können meine Kinder gefahrlos zu Fuss zur Schule gehen? Kann ich dasselbe von meinem Arbeitsweg behaupten? Ist der Bus in einer angemessenen Zeit erreichbar? Kann ich gefahrlos Fahrrad fahren? Wo kann ich mein Velo hinstellen, wenn ich nach Hause komme, sodass es nicht stört und nicht geklaut wird? Wo befindet sich die Abfall- und die Recyclingsammelstelle? Kann ich mitten im Sommer mitten in der Stadt bei geöffnetem Fenster schlafen – oder ist es zu laut? Nehmen Sie all die hoffentlich positiven Antworten und noch viele mehr und Sie kriegen das Bild einer lebenswerten Stadt. Das überaus Seltsame ist, dass all diese kleinen, unwichtigen Dinge zusammen wirklich eine «Soft City» entstehen lassen.

Ist der Begriff «Soft City», den Sie als Titel und Programm auf Ihr Buch drucken, eine absichtliche Anspielung auf den Begriff der «Smart City», der klugen, technologisch hochgerüsteten Stadt?
Ach, ich spreche in meinem Buch über so viele banal scheinende Dinge, die eigentlich selbstverständlich sind, dass ich einfach einen sexy Titel für alles gesucht habe. «Soft City» klingt doch gut, nicht?

In der Tat. Und er signalisiert intellektuellen Tiefgang.
Machen Sie sich nicht lustig darüber! Nur ich mache die Scherze über mein Buch (lacht). Im Ernst, natürlich sehe ich all die Vorschläge und Ideen zusammengenommen als ein kleines Gegenprogramm zur grassierenden Technologie-Gläubigkeit. Technologie kann helfen, aber die Grundlagen sind anders gebaut.

Sie sind viel gereist und haben viele gute Beispiele aus der Welt zusammengetragen.
Ja, ich habe sehr viele der kleinen, guten Beispiele versammelt und ich darf sagen, dass ich vor allem in der Schweiz sehr gute angetroffen habe. Ihr habt den Vorteil, dass ihr alte, zusammengewachsene Stadtkerne habt, die für den Menschen ausgelegt wurden. In vielen Städten der Welt ist das nicht so. Sie sind beispielsweise nur mit Autos erfahrbar oder haben für den Fussgänger gar keinen Platz vorgesehen. Ich war übrigens auch in Luzern und habe viel Gutes gesehen.

Was ist in Luzern gut?
Beeindruckt hat mich die historisch gewachsene Umgebung, die mit baulichen Massnahmen spielt, welche den Alltag lebenswert machen. Interessant ist, dass viele Gebäude umgedeutet wurden und heute Angebote beheimaten, die für das Leben in der Stadt wesentlich sind. Ein Supermarkt in einem historischen Gebäude – das habe ich besonders schön in Bern gesehen. Eine kluge Verdichtung und eine ebenso kluge Diversität gehen miteinander oft einher. Es ist für Städte heute wichtig, dass man Arbeit, Wohnen, Versorgung und Weiteres möglichst nahe beieinander hat. Zeit zu sparen ist wichtig. Wer will schon Lebenszeit mit Mobilität verbringen, wenn es auch anders gehen würde?

In Ihrem Buch haben Sie ein Foto aufgeführt, das einen Luzerner Innenhof zeigt. Warum?
In Luzern fielen mir die Innenhöfe der Überbauungen positiv auf. Sie laden zum Leben, zum Verweilen ein. Sehen Sie, die Verbindung zwischen Menschen ist das wichtigste Gut, auf dem wir unsere Städte bauen sollten.

Begreifen Sie Städte als Verbindungsmaschinen?
Verbindungen zwischen verschiedenen Faktoren sind der Schlüssel für jede lebenswerte Stadt. Darauf sollten wir sie bauen, von diesem Gedanken ausgehen. Ein schönes Beispiel dazu aus der Schweiz ist für mich die gelebte Nähe zum Wasser, die in Bern noch ausgeprägter und besser ist als in Luzern. Das ist ein Faktor, der noch wichtiger wird. Denken Sie an den Klimawandel. Die Verbindung des Menschen zum Klima muss gerade in Städten wiederhergestellt werden. Wir sollten die Welt, die uns umgibt, wieder für alle Sinne erfahrbar machen. Dasselbe gilt übrigens auch für andere Faktoren wie Energienutzung, soziale Segregation oder Fussgängerverkehr.

Warum nennen Sie an dieser Stelle den Fussgängerverkehr?
Weil das ein wichtiges Thema für Städte ist. Die heutigen Städte sind noch immer auf den motorisierten Individualverkehr ausgelegt. Das ist falsch. Wir wissen das alle. Und dennoch gelingt es uns nicht sofort, das zu ändern. Bauliche Massnahmen benötigen Zeit. Diese Zeit gilt es zu überbrücken – mit schnell realisierbaren Massnahmen. Zum Beispiel mit der Idee der durchgehenden Fusswege, die nicht durch Einfall- oder Ausfallstrassen unterbrochen werden. Sie zeigen an, dass Fussgänger Priorität haben. Das ist einfach zu gestalten.

Wen wollen Sie mit Ihrem Buch erreichen?
Alle, die in Städten leben. Natürlich auch die Politiker und Unternehmer. Das Buch ist einfach gehalten. Auch Jugendliche sollen es verstehen können …

… und die Stadtpräsidenten, denn auf sie kommt es bekanntlich an.
Das stimmt. Sie sind entscheidend dafür, wie eine- Stadt aussieht oder aussehen soll. Viele tragen einen gesunden Instinkt in sich, der ihnen sagt, was eine moderne Stadt ist und wie sie funktioniert. Aber meine Erfahrung sagt mir, dass die meisten sich gar nicht bewusst sind, welche Verantwortung sie tragen und welche Möglichkeiten sie haben. 

Sehen Sie Ihre Ideensammlung als eine Inspiration, die nicht den strikten Anspruch auf Gültigkeit erhebt?
Selbstverständlich sind die versammelten Ideen konkret und ist die Gesamthaltung strikt. Ich sehe das Buch eher als ein Manual. Man kann einzelne Massnahmen den Gegebenheiten anpassen und anwenden. Die Ausgangslage ist klar: Man sollte nicht darüber nachdenken, wie ein Gebäude aussieht, sondern welche Funktionen es erfüllen soll. So gelangt man automatisch zu flexibleren Lösungen.

Sie sprechen abschliessend von neun Kriterien, denen sich eine Stadt stellen sollte.
Die Kriterien sind einfach, aber dennoch kompliziert, weil man im Voraus einiges bedenken muss und weil das Resultat einschneidende Konsequenzen hat. Das würde ich städtebaulich und architektonisch immer beachten: die Vielfalt der Gebäudeform und die Vielfalt der Aussenräume, eine Flexibilität, ein menschliches Mass, die Begehbarkeit, ein Gefühl der Kontrolle und Identität, ein angenehmes Mikroklima, eine geringere CO2-Bilanz und eine grössere biologische Vielfalt.

Nach «soft» klingt das nicht.
Doch, doch. Das sind alles weiche Faktoren. Und die Massnahmen müssen sich immer ganz einfach umsetzen lassen.

Büro Gehl in Kopenhagen oder der Anfang der modernen Stadt

David Sim, der exklusive STADTSICHT-Gesprächspartner und Autor des Buches «Soft City», ist Creative Director des legendären Büros Gehl in Kopenhagen. Der 53-jährige Schotte lebt selber in Schweden, aber ebenso wie sein Vordenker und Unternehmensleader Jan Gehl ist er stets in der Welt unterwegs. Kopenhagen ist die Basis für die Dienste und Beratungen, die weltweit gefragt sind. Ob Städteplanungen in Montreal, Brügge, Berlin, München oder Amsterdam, Chicago, New York oder London, Gehl gilt heute als jener Thinktank, der die modernen Städte neu entwerfen und verbessern soll.

Das kommt nicht von ungefähr. Jan Gehl (83), der Gründer des Unternehmens, hatte mit seinem besonderen Fokus auf die Verbesserung der städtischen Infrastrukturen und auf die Lebens- und Alltagsqualität der Menschen den Grundstein für den Erfolg gelegt. Fussgänger, Velofahrerinnen, Familien, Seniorinnen nehmen in seinen Gedanken eine Vorreiterstellung ein. Der dänische Architekt beschäftigte sich seit den frühen Sechzigerjahren mit der Frage, warum sich Architekten nicht für die Menschen interessieren würden. Inzwischen hat sich dies geändert – unter dem Einfluss des Kopenhagener Modells, das zunächst an der für lange Zeit längsten Fussgängerzone -Europas, der Strøget, abzulesen gewesen ist. Unter seiner Anleitung hat sich Kopenhagen innerhalb von vierzig Jahren von einer vom Autoverkehr geprägten Stadt in die Fahrrad-City gewandelt, die Verkehrsberuhigung, aber auch sehr viele Begegnungszonen bietet.

David Sim, Jan Gehls Schüler, führt dieses Denken fort und entwickelt mit «Soft City» die Ideen, wie man mit kleinen, banal erscheinenden Massnahmen die schwierige Wartezeit auf den grossen städtebaulichen Wurf effizient überbrückt.

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