«Wir brauchen dringend ein Tourismus-Cockpit.»

Martin Bütikofer ist Verkehrshaus-Direktor – und seit diesem Frühling Präsident der Luzern Tourismus AG. Was denkt der Kopf der touristischen Vermarktungsorganisation über den Tourismus in der Zentralschweiz? Was will er ändern?

TEXT Bruno Affentranger und Angel Gonzalo
Lesezeit 9 Minuten

STADTSICHT: Martin Bütikofer, ab sofort wird es politisch. Die Stadt Luzern bespricht in den kommenden Wochen ihre Tourismus-Strategie 2030. Was ist Tourismus heute eigentlich?
Martin Bütikofer: Tourismus ist in der Schweiz und im Speziellen in der Zentralschweiz ein Wirtschaftszweig, der über Jahrhunderte gewachsen ist. Der natürliche Auslöser war unsere grandiose, von Gletschern geformte Landschaft. Wir leben auf einem der schönsten Flecken der Welt. Diese Schönheit hat vor rund 250 Jahren, vorab bei englischen Adligen und Intellektuellen, grosses Interesse geweckt. Entwickelt hat sich in der Folge eine veritable Industrie. Der Tourismus ist für Luzern und die Zentralschweiz zu einem Wirtschaftszweig gewachsen, der in unserer unmittelbaren Umgebung jährlich über eine Milliarde Franken Wertschöpfung generiert. Dies vor allem aufgrund der hohen internationalen Nachfrage, die im Laufe der Zeit stetig gestiegen ist.

Andere Regionen leben auch gut mit dem Tourismus. Warum fällt dieser Wirtschaftszweig bei uns besonders auf?
Die klassische Industrie hat sich bei uns nie übermässig angesiedelt, dies vor allem, weil unsere Gegend nicht an der Ost-West-Achse in der Schweiz liegt, die historisch gesehen einen wichtigen wirtschaftlichen Korridor in unserem Land bildet. Luzern liegt auf dem Weg zwischen Norden und Süden. Dieser war viele Jahrhunderte beschwerlich und nur unter gefährlichen Bedingungen zu meistern. Erst im 19. Jahrhundert änderte sich dies mit dem Ausbau der Gotthardroute. Der Tourismus hat sich immer entlang von Verkehrsströmen entwickelt.

Es mehren sich kritische Stimmen gegen übertriebene Formen von Massen­tourismus. Nehmen Sie diese Kritik ernst?
Das Thema müssen wir ernst nehmen – und wir tun dies auch. Es handelt sich um ein subjektives Empfinden eines Teils der Bevölkerung. Die Frage ist: Was machen wir mit dieser Kritik, die aus der Bevölkerung kommt? Die Antwort darauf: Wir müssen sie genau analysieren und den Dialog suchen. Häufig steht in der Stadt Luzern der Schwanenplatz in der Kritik. Es geht um die komplexe Diskussion zum Thema Carverkehr. Der Schwanenplatz repräsentiert jedoch in keiner Art und Weise das vielfältige Tourismusangebot in der Zentralschweiz. Viele Regionen und Attraktionen würden sich über zusätzliche Gäste sehr freuen. 

Warum sehen Sie in den Cars ein geringeres Übel, als dies offenbar andere, gerade politisch argumentierende Menschen in Luzern tun?
Ich habe einen technischen Einwand zur Kritik. Carfahrten sind aus logistischer und ökologischer Sicht höchst effizient. Rund 50 Personen auf 15 Metern Länge kompakt zu transportieren ist tatsächlich eine Spezialkompetenz des Cars, die sonst kein Transportmittel auf der Strasse bietet. Wir müssen dankbar sein, wenn nicht alle Gäste in Minibussen mit schwarz getönten Scheiben und Autonummern, die auf Leihfahrzeuge schliessen lassen, zu uns fahren. Die Flottenlenkung und geregelte Parkierung wären unmöglich. Die Stadt würde enorm leiden. Es gilt also, eine qualifizierte, lösungsorientierte Diskussion zum Thema Car zu führen.

Sie haben das subjektive Empfinden eines Teils der Bevölkerung erwähnt: Was halten Sie vom Schlagwort Over­tourism und seiner Bedeutung für Luzern?
Die oft gehörte Klage wegen des Overtourism, den es in Luzern geben soll, ist für mich übertrieben. Natürlich mag eine gewisse Dichte von Reisenden an bestimmten Zeiten und Lokalitäten entlang der klassischen Hotspots für zwischenzeitliche Irritationen sorgen, aber das ist nicht zu vergleichen mit Zuständen in Städten wie Venedig oder Barcelona. Die Luzern Tourismus AG (LTAG, Anm. der Red.) ist als Marketingorganisation für die gesamte Zentralschweiz zuständig. In diesem grossen Gebiet – vom Gotthard bis nach Sursee – gibt es noch genügend Platz, auch bei einer wachsenden Nachfrage nach Dienstleistungen im Tourismus. Eine intelligente Lenkung der Gäste ist daher in den kommenden Jahren zwingend notwendig.

Der Flughafen Zürich-Kloten ist ein Hub, ein Drehkreuz. Ist auch Luzern für die Zentralschweiz ein Hub?
Dieses Bild ist absolut richtig. Eines meiner Ziele als Präsident der LTAG wird sein, Luzern als Ausgangspunkt für zahlreiche attraktive Aktivitäten in unserer Region auszubauen. Mit unserer Region meine ich konkret die Zentralschweiz. Das könnte dazu führen, dass die Übernachtungen steigen und vor allem die Reisenden etwas länger in Luzern bleiben. Das verstehe ich unter qualitativem Tourismus. Es würde dem Gast eine gewisse Ruhe geben, und dem Gastgeber die Gelegenheit, sich besser auf den Gast einzustellen. 

Kann Luzern eine weitere Zunahme der übernachtenden Gäste überhaupt meistern? Die Bettenzahl ist nicht berauschend.
Ja, das kann unsere Region insbesondere in der Nebensaison. Es ist jedoch richtig, dass das Angebot an Betten die Übernachtungszahlen in der Region limitiert. Vor allem in der Hochsaison ist die Auslastung der Hotels bereits erfreulich hoch. Daher gilt, das Augenmerk in Zukunft vermehrt auf den Tagestourismus zu richten. Wir alle wissen jedoch: Den Tagestourismus zu steuern ist schwierig. Daher ist der überregionale Mix im touristischen Angebot sehr wichtig.

Wachstum, alles deutet in eine Richtung, die Frequenzen steigen. Löst diese Zukunftsaussicht nicht erneut diffuse und irrationale Ängste aus?
Die entscheidende Frage ist: Wo liegt nun wirklich das Problem? Ist es in der Tat derart unerfreulich, wenn die Region Zentralschweiz weiterhin attraktiv ist und für Touristen aus der ganzen Welt eine Wunschdestination bleibt? Auch wenn Teile der Bevölkerung skeptisch sind, gehört ein moderates Wachstum zum Wirtschaftsleben und bringt auch einige Vorteile.

Die Skepsis in der Bevölkerung bleibt bestehen.
Ja, dem ist so. Aber für das Wachstum ist nicht primär der internationale Tourismus verantwortlich. Der grösste Teil des Wachstums ist hausgemacht. Die Bevölkerung wächst. Die Angebote und die Nachfrage in der Mobilität legen weiter zu. Der Durchgangsbahnhof Luzern ist bereits in Planung und wird die Anzahl der Bahnreisenden markant erhöhen. In der Tat, wir müssen uns auf eine zunehmende Nachfrage vorbereiten. Das ist die allgemeine Richtung. Dazu gesellt sich die touristische Realität: Das Bedürfnis vieler Gäste, einmal in ihrem Leben die blumengeschmückte Kapellbrücke mit Pilatus als Fotosujet zu wählen ist real – da kommen wir nicht darum herum, attraktive Lösungen zu finden. Aber das ist für sich noch längst kein Overtourism. 

Wo liegt also wirklich das Problem?
Der Tagestourismus fordert uns heraus, das stimmt. Hier sind wir mit Besuchern konfrontiert, die nicht in der Zentralschweiz übernachten, aber unsere Infrastrukturen und Angebote nutzen. Diesen Tagestourismus effektiv zu lenken, ist schwierig. Aber es gibt Ansatzpunkte. Auf der anderen Seite müssen wir als Bewohnerinnen und Bewohner einer weiterhin touristisch attraktiven Stadt und Region weiterhin Flexibilität und Toleranz aufbringen.

Wem gegenüber sollten wir mehr Toleranz aufbringen?
Hinter den subjektiven Ängsten und Sorgen, hinter dem Reden über einen lokalen Overtourism steckt auch eine gesellschaftliche Komponente. Menschen aus fremden Kulturen werden anders wahrgenommen. Das lässt sich gut beobachten in den politischen Diskursen, in veröffentlichten Meinungen und den Medien. Wir als LTAG müssen sicherlich vermehrt noch Aufklärungsarbeit leisten, damit die verschiedenen Kulturen besser verstanden werden. Wir haben kaum eine andere Wahl. Denn wir dürfen nicht vergessen: Ohne Tourismus wäre Luzern nicht nur historisch gesehen anders gebaut, anders ausgelegt. Die Angebote in den Bereichen Kultur und Freizeit in dieser Stadt und Region wären – auch für die einheimische Bevölkerung – schlicht jene einer mittleren Provinzstadt, ohne KKL und ohne Dampfschiffe.

Ist es nicht eine allzu romantische Vorstellung, ein subjektives Unbehagen in Teilen der Bevölkerung mit Aufklärungsarbeit lösen zu wollen?
Die Gesellschaft kann sich anpassen. Das zeigt die Vergangenheit. Zugegeben: Wenn die Veränderungen zu schnell erfolgen, dann wird es schwierig. Man muss in neue Gegebenheiten hineinwachsen. Es ist also eine Frage der Geschwindigkeit. Aber ich möchte hier einen Punkt unter diese Debatte setzen, denn wir müssen aufpassen, dass wir nicht das Ziel aus den Augen verlieren. Auch hier und an dieser Stelle. Meine Herausforderung als Präsident der LTAG wird sein, den gut laufenden Tourismusmotor auf diesem hohen Niveau weiterzuentwickeln. Ich war in letzter Zeit viel in der Schweiz bei Touristikern unterwegs und bin erstaunt, welche hohe Achtung man davor hat, wie wir uns aufgestellt haben und wie wir sogar in der Lage sind, von internationalen Unternehmen gesandte Grossgruppen sehr professionell zu betreuen.

Gibt es Instrumente, die helfen könnten, gewisse Exzesse zu verhindern?
Der Verwaltungsrat und unsere Fachspezialisten bei der LTAG prüfen alle Möglichkeiten, die zur aktiven Steuerung, insbesondere des Tagestourismus, weltweit eingesetzt werden. Es zeigt sich, dass bestimmte Massnahmen je nach Rahmenbedingungen unterschiedlich wirken. Klar ist: Es gibt keine Patentrezepte. Wichtig ist, dass wir keine populistische Diskussion nach dem Schema Schwarz oder Weiss führen. Ich denke in eine andere Richtung: Wir können und dürfen stolz sein, dass so viele Menschen aus aller Welt in unsere Region reisen. Wir müssen dann aber auch bereit sein, die entsprechenden Infrastrukturen bereitzuhalten und die Angebote weiterzuentwickeln.

Wo sehen Sie die grössten Herausforderungen für die Luzern Tourismus AG, die ja für die ganze Zentralschweiz steht?
Ich wehre mich entschieden dagegen, dass das Image des Tourismus in der Zentralschweiz einzig durch das komplexe Problem am Schwanenplatz und Grendel in Luzern geprägt wird. Im Gegenteil: Ich bin sehr stolz auf die tollen Angebote und Tausenden von engagierten Mitarbeitenden, die direkt oder indirekt für den Sektor Tourismus arbeiten, an 365 Tagen – Tag und Nacht. Sorgen macht mir jedoch die verkehrstechnische Erreichbarkeit der Stadt Luzern, sowohl für den öffentlichen Verkehr wie auch den Individualverkehr. Hier müssen rasch zukunftsgerichtete Projekte an die Hand genommen werden. Da sind alle gefordert, die Stadt und der Kanton Luzern, die Wirtschaft sowie der Bund.

Was schwebt Ihnen vor?
Luzern hat aus meiner Sicht die einmalige Chance, ein Labor für clevere, partnerschaftliche Lösungen zu werden. Wir verfügen über eine sehr gute Infrastruktur, über eine international bedeutende Hotelfachschule sowie Bildungsstätten für Tourismus mit internationaler Ausstrahlung. Das sind ideale Voraussetzungen, um Luzern als Lehr- und Lernort für die Branche zu positionieren. Es gibt kaum einen Ort in der Schweiz, wo Schifffahrt, Bergbahnen und Hotels so nah beieinander liegen. Wir dürfen alle durchaus selbstbewusster die guten Geschichten aus unserer Region zeigen und mit Stolz in die Welt hinaustragen.

Wie soll das konkret gehen?
Ich mache ein Beispiel: Lassen Sie uns doch vermehrt Produkte aus unserer Region verwenden und vermarkten. Hier liegt noch vieles brach, gerade in den Hotels und Restaurants am Ort. Inspiration kann man beispielsweise beim Morgenbuffet mit regionalen Produkten entfachen: Warum nicht einmal einen örtlichen Käse auftischen, davon auch sprechen und ihn anschreiben, von seiner Herkunft berichten – und nachmittags die Exkursion für den interessierten Hotelgast an diesen Herkunftsort anbieten oder sogar organisieren? Das wäre die gelebte Hub-Idee und viel mehr als nur Käse.

Sie sprechen das historische Erbe an: Früher wurden die Hotels weitgehend aus der Region beliefert. Sollte man dies vermehrt machen?
Unbedingt. Ich glaube, wir haben hier eine grosse Chance, unseren Gästen die regionale Vielfalt selbstbewusst zu präsentieren und erlebbar zu machen. Zudem können die Mitarbeitenden in den Hotels ihre Fachkompetenz zeigen und mit Stolz Gastgeber sein. 

Den Käse verstehen wir als eine Metapher für Authentizität und Eigenkreation.  Gibt es ein bauliches Manifest, das dieses Ansinnen ebenfalls fördert? 
Nun, wir haben mit dem Wasserturm eine touristische Ikone. Und das KKL Luzern hat ebenfalls eine internationale Ausstrahlung. Ich bin nicht sicher, ob es wirklich einen neuen baulichen Leuchtturm braucht. Die Gesamtinszenierung und das Zusammenwirken müssen noch besser spielen, darauf kommt es an. Wir sollten zudem neue Ideen realisieren, wie etwa eine mit Solarstrom betriebene Fähre für Fahrräder zwischen Seeburg/Lido und Alpenquai, die auch für die einheimische Bevölkerung einen Mehrwert schafft. Käse muss nicht immer Käse bleiben: Firmen wie die Luzerner Axon Vibe, welche jüngst einen Vertrag mit der SBB AG zur Entwicklung einer App zur Optimierung der Nutzung von Verkehrsmitteln unterzeichnet hat und selbst in New York mit der Software präsent ist – das sind Geschichten, die auch den Tourismus weiterbringen. Nicht nur, weil diese lokalen Firmen eine internationale Ausstrahlung haben, sondern auch aktiv an der Front der digitalen Transformation sind. Das ist für die Vermarktung und Optimierung der touristischen Angebote in unserer Region sehr interessant.

Wie können Sie sich die Vermarktung, aber auch die Organisation von Tourismus in der Zentralschweiz in Zukunft vorstellen?
Die Digitalisierung bietet grosse Möglichkeiten auch im Tourismus. Neben der erfolgreich eingeführten digitalen Gästekarte prüfen wir nun den Aufbau eines digitalen Marktplatzes. Diese digitale Plattform soll dazu beitragen, unsere Gäste und die einheimische Bevölkerung – auch ganz kurzfristig – über attraktive Angebote wie zum Beispiel über Resttickets für ein Konzert zu informieren und sie direkt buchbar zu machen. Diese Projekte werden die Branche weiter stärken. Es ist zudem wichtig, dass wir die Themenführerschaft im Tourismus selbst in der Hand behalten. Wir dürfen auf keinen Fall das Feld anderen überlassen. So wäre es auch schwierig, den Überblick zu bewahren.

Wie erreicht Luzern diesen Überblick?
Wir brauchen dringend ein sogenanntes Tourismuscockpit.

Was verstehen Sie darunter?
Das Luzerner Tourismuscockpit muss alle wichtigen Indikatoren abbilden, damit man auf der Basis von Zahlen und Fakten und nicht nur emotional über das Thema diskutieren kann. Neben den bekannten Grössen wie Übernachtungszahlen, Umsatz pro Gast und Wertschöpfung sollten neu unter anderem auch Informationen über den Tagestourismus, die Nachhaltigkeit und ein Tourismusbarometer, das die Stimmung in der Bevölkerung abbildet, im Cockpit integriert werden. Um hier genügend genaue Zahlen zu erhalten, braucht es wie immer die Zusammenarbeit mit allen Partnern. 

Jetzt sind Sie warmgelaufen und in Ihrem Element.
Stimmt. Es klingt vielleicht etwas betont positiv, und das impliziert auch meine Rolle als Präsident, aber ich lasse unsere Tourismusbranche nicht krankreden, wo sie doch im Grunde fit und leistungsfähig ist. Wir müssen sie vielmehr stärken und sie kontrolliert weiterentwickeln. Wir müssen noch vermehrt von der intakten Infrastruktur reden, von der wunderbaren Landschaft, den attraktiven Angeboten und vor allem von den hoch motivierten Gastgeberinnen und Gastgebern bei den Leistungsträgern. Sie alle verdienen hohe Anerkennung und grossen Respekt.

 

Der Präsident seit 2019: Martin Bütikofer (58) ist seit diesem Frühling Präsident der Luzern Tourismus AG, der Vermarktungsorganisation des Tourismus in der Zentral­schweiz. Seit 2008 steht er als Direktor an der Spitze des Verkehrshauses der Schweiz. Bütikofer ist verheiratet, Vater und ein begeisterter ­Reisender.
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