Wenn die Peripherie ins Zentrum rückt

450 Millionen Franken Investitionen, 30 Jahre Realisierungsphase – die Viscosistadt in Emmen ist ein städtebauliches Entwicklungsprojekt mit überregionaler Ausstrahlung.Das gigantische Areal verdankt seine Wiedergeburt einem Ostschweizer Familienunternehmen aus der Textilindustrie, das nie etwas mit städtebau--licher Entwicklung am Hut haben wollte.

TEXT angel GONZALO
Lesezeit 13 Minuten
In der urbanen Mitte.

Die Rede ist hier von einem Gebiet, auf dem die Luzerner Altstadt Platz hätte. Seit die Viscosistadt AG im Jahr 2014 die Federführung für die Entwicklung von 5,5 Hektaren oder 55 000 Quadratmetern Land mit zahlreichen Gebäuden auf dem ehemaligen Industrieareal der Viscosuisse übernommen hat, geht es flott voran – dort, wo noch in den Siebziger- und Achtzigerjahren rund 3000 Menschen arbeiteten. Dies auf einer Gesamtfläche von nahezu 90 000 Quadratmetern. Hier erwirtschaftete damals die Viscosuisse über zwei Drittel des Steuersubstrats der Gemeinde Emmen. Dies, notabene, in einer Zeit, da Emmen zu den steuergünstigsten Gemeinden im Kanton zählte. Gute, alte Zeiten.

Industrieellenfamilien werden Entwickler
Alain Homberger (63) leitet seit 2014 die Viscosistadt AG. Für ihn sei dies der beste Job, den er bislang gehabt habe, gibt der Spross einer Ostschweizer Industriellenfamilie aus der Textilbranche unumwunden zu. Wie er waren schon sein Vater und sein Grossvater Verwaltungsräte des vor rund 200 Jahre gegründeten Unternehmens Sefar, das eine wesentliche Rolle in dieser Historie spielt. Sefar steht für «Seidenfabrikanten-Réunion», ein Zusammenschluss von acht Seidenfabrikanten, die zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts ein Kartell bildeten, um sich gegenseitig den Markt zu sichern – lange bevor das Kartellgesetz erfunden wurde. Zu jener Zeit kein seltenes Wirtschaftsgebaren.

Dieser Zusammenschluss hielt über Generationen und war bis zum Krisenjahr 2009, als die Sefar Holding zum ersten Mal in ihrer Geschichte einen Verlust verbuchen musste, stets von Erfolg gekrönt. In diesem Jahr musste ihr Hauptlieferant für Garn, die Nexis Fibers AG, Konkurs anmelden. Das traditionsreiche Familienunternehmen wagte, wenn auch notgedrungen, den Kauf der Produktion seines Hauptlieferanten – eine Praxis, wovor in der Betriebswirtschaftslehre dringend abgeraten wird.

Mit dem Kauf sicherte das Unternehmen 150 Mitarbeitenden, davon zwanzig Lehrlingen, die Arbeitsstelle in Emmen. Die erworbene Produktion wurde fortan in der neu gegründeten Monosuisse AG weitergeführt. Mittlerweile beschäftigt das Auffangunternehmen in der Schweiz, in Rumänien, Polen und Mexiko über tausend Mitarbeitende. Bei der Sefar stehen weltweit gegen 3000 Personen auf der Lohnliste. Seit dem Krisenjahr 2009 sind die Zahlen wieder solid schwarz.

Die erzwungene Rettung des in Schieflage geratenen Lieferanten war mit dem Kauf des ehemaligen Viscosuisse-Areals «Emmenfeld» verbunden. Im Grunde ein Glücksfall, sowohl für die Gemeinde Emmen wie auch für das Familienunternehmen, denn die Gründung der Viscosistadt AG unter dem Dach der Sefar Holding im Jahr 2014 ebnete den Weg zu einem Entwicklungsprojekt mit überregionalem Charakter auf einer Fläche von über 89 000 Quadratmetern, wovon 55 000 Quadratmeter im Besitz der Viscosistadt AG sind.

Langfristig ausgelegt
Homberger ist seit über zwanzig Jahren im Verwaltungsrat der Sefar Holding AG. Operativ hat er das Unternehmen nie geführt. Er war lange Jahre selbstständiger Unternehmensberater und Bewirtschafter eines Biolandschaftsbetriebes im Toggenburg. So hat er erste Erfahrungen im Immobiliensektor beziehungsweise im Objektmanagement, aber auch als Biobauer in nachhaltiger Bewirtschaftung gemacht. Er wohnt seit Jahren im finanzstarken Freienbach (Kanton Schwyz) und ist im Gemeinderat für die Finanzen verantwortlich. Sicher ist, dass ihm die neue Aufgabe in der Viscosistadt Spass macht. Man sieht es ihm an. «Ich möchte dem Projekt eine Seele geben, die rund 5,5 Hektaren sollen in den nächsten dreissig Jahren nachhaltig entwickelt werden», beschreibt er die von ihm vorgegebene Stossrichtung.

Das Investitionsvolumen beträgt rund 450 Millionen Franken. Das sei, so Homberger, von Seiten seines Unternehmens nicht auf Anhieb zu stemmen. Daher soll die Entwicklung des Areals in Etappen erfolgen. Er weiss aus Erfahrung, dass gar manche Grossprojekte innerhalb kurzer Frist projektiert sind, so dass die Gebäude gemeinsam alt und dadurch in fünfzig bis sechzig Jahren beträchtliche Investitionen nach sich ziehen würden. Homberger betont: «Wir gehen Schritt für Schritt, erhalten vorerst die Sub-stanz, sanieren, wo notwendig und bereiten das Feld für künftige Vorhaben vor.»

Eventlocation bringt frischen Wind
Allein der Kapitalbedarf für notwendige Investitionen in Energietechnik, Dach- und Fassadenrenovationen oder etwa für die Erdbebensicherheit beläuft sich in den nächsten Jahren auf dreissig bis vierzig Millionen Franken. Das sind Investitionen in die Substanz, die notwendig sind, um nachhaltig entwickeln zu können. Das sind aber auch Argumente, die hiesige Unternehmen überzeugen, wie die Auviso AG, welche die Viscosistadt als idealen Standort sieht.

Die 2018 von den beiden Luzerner Firmen Auviso und Tavolago ins Leben gerufene Eventlocation in der aufstrebenden Viscosi-stadt ist zwar ein Provisorium, doch eines mit Ausstrahlung. Sie soll den Weg ebnen für eine permanente Nutzung, wie dies etwa in Form einer bereits projektierten «Film-Stadt» der Fall sein könnte (STADTSICHT berichtete darüber in der letzten Ausgabe).

Martin Elmiger (47) ist der Mitgründer und Geschäftsführer der Auviso AG, nach eigenen Angaben ein führendes Schweizer Unternehmen für audiovisuelle Dienstleistungen. Elmiger hat das Unternehmen von 16 Jahren in Horw mitgegründet, 2008 erfolgte der Umzug in die Krienser Sternmatt. Heute beschäftigt das Unternehmen über neunzig Mitarbeitende an den vier Standorten Emmen, Basel, St. Gallen und Zürich. Auviso hat 7500 Quadratmeter im Viscosi-Areal gemietet. Allein das Lager für die umfangreichen und voluminösen technischen Anlagen benötigt 5000 Quadratmeter. Das sind immense Kubaturen und Flächen.

2017 dislozierte das Unternehmen nach Emmen an die Spinnereistrasse. Nun ist die Auviso nach der «Hochschule Luzern – Design & Kunst» und dem Industriebetrieb «Swissflock» der drittgrösste Mieter im gigantischen Areal. Die Nähe zur Filmabteilung der Hochschule Luzern ist für Elmiger ein Glücksfall, zumal er mit seinem Unternehmen nicht nur die technische Seite von Veranstaltungen betreut, sondern vermehrt konzeptionelle und inhaltliche Lösungen anbieten will.

Praktisch nebenan kann der Unternehmer künstlerische Inspiration erfahren, aber auch künftige Mitarbeitende holen. Derzeit beschäftigt die Auviso mehrere Multimedia-Producer, die für die «richtige Stimmung im Raum sorgen», wie es Elmiger ausdrückt. Verkehrstechnisch ist der Standort beim Seetalplatz ideal für ein Unternehmen, das in der gesamten Deutschschweiz operiert und das technische Material effizient von einem Anlass zum anderen transportieren muss.

Der Deal mit der Viscosistadt AG sieht vor, dass Auviso und das Luzerner Gastro- und Cateringunternehmen Tavolago AG (eine Tochter der SGV Holding AG) als Partner die Events mit einer Kapazität von bis zu 600 Personen organisieren und durchführen. Die Viscosistadt stellt die rund 1500 Quadratmeter als Vermieter zur Verfügung und vermarktet aktiv die Eventlocation.

Elmiger ist ein Filmenthusiast und als Mitglied der Film Commission Lucerne eng mit der Zentralschweizer Filmszene verbunden. Den weit gediehenen Plänen, im ehemaligen Viscosi-Areal eine Filmlocation zu errichten, steht er positiv, aber auch pragmatisch gegenüber. Das Projekt sei spannend und würde vom Präsidenten des Trägervereins der Film Commission Lucerne, Niklaus Zeier, mit viel Herzblut vorangetrieben. Die veranschlagten Kosten von rund zwölf Millionen erachtet er aber als eine hohe Hürde.

Seiner Meinung nach werden hier vermehrt private Investoren notwendig sein, um das Projekt zu realisieren. Neben dem sicherlich gelungenen künstlerisch-ideellen Konzept brauche es, so Elmiger, ein klares Businessmodell nach strengen wirtschaftlichen Kriterien. Hier sei auch die Politik gefordert: «Wenn Luzern dereinst als ernst zu nehmende Filmlocation wahrgenommen werden soll, muss noch einiges realisiert werden. Hier sind Investitionen in Infrastruktur und Verkehrsanschlüsse absolut notwendig. Nur so kann privates Geld angelockt werden.»

Die Nähe zum Wasser ist versteckt, aber atemberaubend.

Urbaner Grossraum Luzern
Für Martin Elmiger ist inzwischen klar: «Emmen ist nicht mehr peripher, gehört für mich ganz klar zum pulsierenden, urbanen Gebiet Luzern.» Dies nicht zuletzt aufgrund des neu konzipierten Seetalplatzes, welcher den Begriff «Luzern Nord» geprägt hat und sinnbildlich für einen urbanen Grossraum Luzern steht.

Der aus dem Luzerner Seetal stammende Elmiger ist ein erklärter Verfechter davon. Für ihn hört Luzern nicht beim Seetalplatz auf, sondern geht bis nach Emmen und umfasst auch die an die Stadt grenzenden Agglo-Gemeinden: «Luzern würde mit weit über 150 000 Einwohnern international besser wahrgenommen. Unter anderem auch, wenn es darum geht, unsere Stadt als Event- und Filmlocation zu positionieren.»

Ähnlich denkt auch Alain Homberger, relativiert aber: «Nach den vor rund acht Jahren gescheiterten Fusionsbestrebungen zwischen Emmen und Luzern stelle ich ein verstärktes Selbstbewusstsein in Emmen fest.» Die Entwicklung des Viscosi-Areals sei in guter Zusammenarbeit mit den Emmer Behörden gelaufen. Am Anfang sei man skeptisch gewesen bezüglich der Absichten der -Eigentümerin Sefar. Man befürchtete wohl, das Areal würde möglicherweise weiterverkauft, vermutet Homberger.

Der Geschäftsführer der Viscosistadt AG gibt jedoch Entwarnung, die Philosophie des Familienunternehmens Sefar sei auf Langfristigkeit angelegt. Wenn auch die Immobilienbewirtschaftung und Entwicklungsprojekte nicht zum Kerngeschäft des Unternehmens gehörten, so wolle man das Projekt dennoch konsequent durchziehen. Im Übrigen sei dieses Geschäft in der Holding vom industriellen Kerngeschäft völlig getrennt.

Bislang besteht der Mix in der Viscosistadt aus Industrie, Gewerbe, Bildung, Gastronomie und diversen Kunstateliers. Das behagt Homberger. Dass der Bebauungsplan im Gesamtareal dreissig Prozent Wohnungen vorsieht, nimmt er hin, obschon er dies als weniger spannend empfindet. Die Marschroute stimmt für ihn. Wöchentlich bekäme er viele Anfragen, das Interesse vonseiten des Gewerbes sei gross.

Weil die Viscosistadt in einer Hand ist, kann er die Entwicklung gemäss dem gültigen Bebauungsplan ohne Angst vor Komplikationen und Einsprachen vorantreiben. Davon können manche Entwickler nur träumen.