Wie ticken die denn!
Da hast du vollkommen recht!» «Spannend!» «Genauso erleb ich das auch!» Ja, in den eigenen
Reihen finden sich Gleichgesinnte. Man bewegt sich in denselben Lokalen, man teilt Interessen, Werte und glaubt oft, die eigene, sogenannte Blase sei das Mass aller Dinge. Stammtisch, Stamm, Tribe, Kuchen, tribale Filterblase, analog lebt es sich oft ähnlich abgeschottet wie in den so gerne diskutierten digitalen «Bubbles». Hier der Versuch, drei unterschiedliche Stämme in Luzern abzubilden.

Mein Stamm im alternativen Kulturfilz, bei den sogenannten Gutmenschen und Moralaposteln
Jana Avanzini, 33-jährig, freischaffende Journalistin und Theaterwissenschaftlerin. Wir sitzen im Krienbrüggli in der Luzerner Kleinstadt.
Man trifft sich beim Apéro im «Meyer», «Houdini», im «Krienbrüggli», «Neubad» oder «Parterre». Man sieht sich im Kleintheater, im Stadttheater, im Südpol, besucht Vernissagen und Performances in Zwischennutzungen. Kultur interessiert. Doch Musicals, grosse Hallen oder Comedy von Ex-Missen bleiben aussen vor. Man konsumiert Alternativ- und Hochkultur.
Familie, Freunde und Kinder sind oft die ersten Gesprächsthemen. Dann dominieren bald die lokale Kultur und Kulturpolitik, städtische und nationale Politik sowie das Thema Gleichstellung und der Klimawandel. Nicht politisch zu sein, das geht eigentlich nicht. Links sind eigentlich alle. Sonst muss ja irgendwas falsch sein mit der Empathie. Die meisten arbeiten auch im Sozial- und im Kulturbereich. Auch Lehrerinnen, Juristinnen und Psychologen sind dabei. Meist ist man auch in irgendeiner Form ehrenamtlich aktiv.
Man liest Tageszeitungen, aber öfters eigentlich die dazugehörigen Magazine. Einen «Blick» und eine Pendlerzeitung nur äusserst selten. Möbel, Kleider und mehr besorgt man secondhand oder möglichst fair produziert – meistens. Beim Essengehen setzt man entweder auf regionale Küche und Produkte, Libanesisch oder Indisch. Getanzt wird im Ausgang doch eher selten. Dafür wird gerne und viel getrunken. Geraucht ebenfalls.
Man macht Yoga, man surft und klettert. Wandern ist ebenfalls hoch im Kurs. Fitness-Abos auch, doch dazu gehört, deswegen leicht peinlich berührt zu sein. Nur wenige fahren Auto und wenn, dann ist es eine charmante Schrottkiste oder ein Ferienbüssli. Besonders klimafreundlich sind die nicht. Beim Reisen macht man sich mittlerweile ziemlich viele Gedanken. Der Zug wird dem Flieger vorgezogen, verreist wird trotzdem ziemlich oft.
Religion?
Ist kaum Thema. Die meisten sind aus der Kirche ausgetreten oder deren atheistische Mitglieder.
Privilegien?
Wir hatten Glück mit unseren Startbedingungen ins Leben! Andere nicht. Genau deshalb müssen
wir Privilegierte uns für Menschen einsetzen, die weniger Glück haben.
Tourismus?
Wird auch mal diskutiert. Solange er in der Altstadt bleibt, ist er jedoch weniger Thema.
Klimawandel?
Eines der grossen Themen aktuell. Massentierhaltung, der eigene ökologische Fussabdruck, politische Entwicklungen. Es taucht in allen Lebensbereichen auf.
Typisch luzernerisch?
Das Löwendenkmal.
Typisch schweizerisch?
Konservativ und zurückhaltend.
Wann wird hart diskutiert?
Wenn es um die eigene Inkonsequenz geht – beim Reisen, Essen, Einkaufen – beim Konsum allgemein. Und beim Thema Feminismus.
Geht gar nicht?
SUV fahren und SVP wählen.
Ein Stammesdenken, ist definitiv vorhanden. Bei Diskussionen fällt der Satz «Ich bewege mich natürlich auch vor allem in meiner Bubble …» geradezu inflationär. Man setzt sich für Dinge ein, die nicht (noch nicht) mehrheitsfähig sind, man konsumiert Kultur, die auf Unterstützung der öffentlichen Hand angewiesen ist. Man fordert Dinge von der Gesellschaft, Veränderungen oder Verbote und stellt sich damit mit seinem Stamm in logischer Konsequenz auch oft gegen andere.

Mein Stamm bei den Fitness-Freaks, den sogenannten Modepüppchen und SelbstOptimierern
Valeria Rullo, 29-jährig, Visual Merchandiser und Detailhandelsangestellte bei H & M. Wir treffen uns in der Bachmann-Filiale im Emmencenter.
Einen Stammtisch, eine Stammbeiz gibt es nicht. Man trifft sich im Fitness, an Geräten und im Kursraum. Hier kennt man sich, hier wird über die gemeinsamen Themen diskutiert. Über die Gruppenfitnessprogramme Les Mills, das letzte Training, über Erholung, neue Übungen und Ernährung. Die meisten arbeiten im Detailhandel, in der Mode- und Kosmetikbranche aber auch im Fitness- und Ernährungsbereich. Der Alltag besteht zu grössten Teilen aus Arbeit und Training. Die anschliessenden Abende werden gern zu Hause verbracht – mit Partner und Familie.
Politik ist immer weit entfernt. Abstimmen und wählen, Initiativen und Referenden sind kein Thema. Nachrichten und Zeitungen liest man selten – zu viel Krieg, zu viele Krisen dominieren die Titelseiten. Daran kann man nichts ändern, deshalb lässt man es lieber gar nicht erst an sich heran. Sonst fühlt man die Hilflosigkeit. Wenn das «20 Minuten» oder auch die «Luzerner Zeitung» im Pausenraum aufliegt, dann liest man vielleicht mal rein. Darüber gesprochen wird selten. Denn was bewegt, sind Familie, Freunde und die Themen Mode, Fitness und Ernährung. Auch darüber, was auf Instagram läuft, wird diskutiert. Über Trends und Must-haves, über Bodypump und neue Kampagnen von Sportanbietern. Denn Sport machen alle. Und Mode mögen alle. Auch Schönheitsoperationen sind Thema. Gemacht werden sie jedoch selten – höchstens die Lippen.
Man fährt Auto, auch wenn man den öV nutzen könnte. Mit dem Smart gehts schlichtweg schneller, es ist praktischer. Am liebsten würde man die ganze Welt sehen. Man reist oft nach Italien, in den Balkan, besucht Familie. Oder man fliegt nach Bali oder Miami, dann gönnt man sich das volle Programm, schläft in schönen Hotels und lässt es sich am Strand gut gehen. Eingekauft wird allgemein gerne und oft. Denn Mode ist Leidenschaft. Inspiriert von Trends, von Influencern und aktuellen Kollektionen, holt man sich Kleidung vor allem online. Auf Zalando oder direkt auf den Webseiten der Marken. Auch H&M und Zara sind sehr beliebt.
Auswärts gegessen wird in Luzern im «Shanghai», im «La Cucina», im «Pacifico». Konzerte, Theater, Ausstellungen besucht man nicht, diese Veranstaltungen nimmt man meist gar nicht wahr. Der Kinobesuch eines aktuellen Blockbusters – im MAXX mit Freunden, steht öfters mal auf dem Plan. Zum Tanzen trifft man sich im Penthouse. Getrunken wird Rivella blau und Cola Zero. Alkohol gibts nur äusserst selten und geraucht wird schon gar nicht. Denn früh aufstehen und trainieren geht ohne Brummschädel definitiv besser.
Religion?
Religion ist kaum Thema. Obwohl viele unterschiedliche Nationalitäten und Religionen zusammenkommen, diskutiert man darüber selten – denn praktizierend ist eigentlich niemand.
Privilegien?
Wir haben es doch eigentlich gut. Kann es nicht allen so gehen? Dass alle gleich sind, egal welcher Farbe, Sprache, Nationalität, Religion! Das wünscht man sich.
Tourismus?
Ist kein Thema.
Klimawandel?
Ist gar kein Thema. Vegane Ernährung wird jedoch aus sportlicher Sicht diskutiert und getestet.
Typisch luzernerisch, typisch schweizerisch?
Die Kapellbrücke – und verschlossene Menschen.
Wann wird hart diskutiert?
Sehr selten. Wenn, dann beim Thema Ernährung, da gibt es so viele verschiedene Ansätze und dementsprechend gehen die Meinungen oft auseinander.
Geht gar nicht?
Sport und Rauchen!
Ein Stammesdenken, das Gefühl einer Bubble, das scheint in Valerias Stamm wenig bis gar nicht ausgeprägt zu sein. Das Interesse für Fitness und Mode verbindet zwar. Und man hat zwar mit Menschen, die sich dafür kaum interessieren, sehr wenige Gesprächsthemen, findet das aber auch nicht besonders tragisch. Man findet sie deswegen ja nicht unsympathisch. Dass es für die unterschiedlichsten Bereiche die dazugehörigen Menschen gibt, die sich dafür interessieren – so soll es sein. Jedem Tierchen sein Pläsierchen. Ein Stammesgefühl entsteht da kaum.

Mein Stamm im Hotelier-Adel, dem sogenannten Zünftler-Filz und der Cüpli-Gesellschaft
Mike Hauser, 48-jährig, Hotelier und Geschäftsführer des Hotels Schweizerhof. Wir treffen uns im Hotel Schweizerhof in der Bar.
Fussball bewegt. Der FCL ist immer Thema und das eigentlich überall, wo man sich trifft in Luzern. Das ist beim Golf im Rastenmoos, im Stadion, bei Konzerten,
an der Fasnacht und an Treffen der Maskenliebhabergesellschaft. In der Stadt in
der Bar Leon – im Hotel Schweizerhof. Gerne bleibt man aber auch mal zu Hause,
verbringt ein ruhiges Wochenende und schlendert mit der Familie über den Markt. Familie, Freunde, Kinder und deren Schulen sind die wichtigsten Themen. Was daneben verbindet, ist das Interesse für Tourismus, Fasnacht, Guggenmusik, FCL, Golfen, Bluesfestival, die städtische Politik, auch mal die amerikanische. Musik wird ebenfalls viel diskutiert – man ist in Vereinen, Vorständen, Zünften und Verwaltungsräten. Man engagiert sich für Kultur und die Stadt. Gewählt wird fast ausschliesslich die FDP.
Man arbeitet in unterschiedlichsten Bereichen. Oft jedoch in Führungspositionen – viele in der Tourismusbranche, doch vom Finanzcontroller bis zum Skifabrikanten ist alles dabei. Man liest verschiedene Tageszeitungen, schaut sich vor allem die Nachrichten an. Und selbstverständlich den Sport. Bücher, Serien und Filme schafft man eher selten. Livekonzerte hingegen haben einen hohen Stellenwert, besonders Rock und Blues, sei es im Hallenstadion, in der Schüür, beim Blueballs im KKL.
Essen kauft man am liebsten auf dem Wochenmarkt. Kleidung selten online, eigentlich nur in Luzern, so unkompliziert wie möglich. Qualität ist wichtig, wenn in einer Boutique die Angestellten Grösse und Stil kennen, dann läuft der Einkauf am schnellsten ab. Dann wird man angerufen, wenn etwas Passendes angekommen ist. Man fährt oft Zug, aber auch SUV und Elektro-Auto. Und man fliegt doch ziemlich oft. Beruflich sicher, doch auch privat verreist man gerne. Dafür liegen Wochenendausflüge leider viel zu selten drin, da man sich an so vielen Ort engagiert.
Religion?
Ist selten Thema. Man ist reformiert oder
katholisch, besucht die Kirche aber kaum.
Tourismus?
Eines der grössten Themen. Hier interessieren wirklich alle Aspekte, und Diskussionen können
auch mal länger dauern.
Privilegien?
Man ist in der Schweiz geboren und ist somit
klar privilegiert. Man soll sich dafür auch nicht entschuldigen müssen. Grundsätzlich geht es immer darum, das Beste aus jeder Situation zu machen.
Klimawandel?
Er ist ein Thema und man ist sich auch einig,
dass etwas passieren muss. Man sollte jedoch nicht extrem werden und alles über den Haufen werfen. Jeder, was er kann und möchte. Ob das mehr Zugfahren ist oder einmal weniger Fleisch essen. Ob es hingegen gescheit ist, fürs Klima zu streiken, das ist zu bezweifeln. Doch jeder, wie er will. Wenn jemand demonstrieren will, soll er das tun. Jeder, wie er mag.
Typisch luzernerisch?
Der Wasserturm. Und das man sich hier ständig überall über den Weg läuft.
Schweizerisch?
Das ist pünktlich, verlässlich, genau und sauber – schön.
Wann wird hart diskutiert?
Sehr selten. Aber wenn, dann beim Thema
Tourismus. Besonders, wenn man kritisiert und gleichzeitig profitiert.
Geht gar nicht?
Gibts nicht. Toleranz ist das Wichtigste. Jeder
soll tun können, was ihm gefällt. Ob er sich ein Meersäuli, einen Hund oder ein Flugzeug kauft. Solange man ehrlich ist, sachlich und nach Lösungen sucht, nicht nach Problemen. Machen wir doch einfach das Beste daraus. Das sagen wir einander oft: «Es kommt schon gut, es ist noch immer gut
gekommen.»
Ein Stammesdenken, das Gefühl einer Bubble, das scheint in Hausers Stamm wenig bis gar nicht ausgeprägt zu sein. Und damit fehlt offenbar auch das Gefühl einer Abgrenzung. Das «Wir» scheint so ziemlich alle einzuschliessen. Trotzdem gibt es bestimmte Dinge aus anderen Stämmen, denen man mit kritischem Blick begegnet. Dass nun auch die Stadt Luzern politisch immer linker wird, sieht man als schwierige Entwicklung. Auch Kultur, die sich nicht zu einem guten Teil selbst finanzieren kann. Also kein tatsächliches Stammesgefühl, aber ein Beobachten anderer Stämme.