Hat der Löwe Privilegien? Willkommen zur Erforschung

Was ist das Löwendenkmal in Luzern? Ein Idyll, eine ferne Erinnerung, eine Sehenswürdigkeit? Oder etwa mehr? Zum 200-Jahr-Jubiläum des Denkmals hat sich das «Löwendenkmal 21»-Projekt dieser Fragen angenommen. Die Antworten aus der Kunst sind spannend und wecken Widerspruch. So auch die neueste Intervention von Jeanne Jacob und Mirjam Ayla Zürcher.

TEXT Angel Gonzalo
Lesezeit 10 Minuten

Jeanne Jacob

Geboren 1994 in Neuenburg, lebt und arbeitet in Biel. Nach dem Vorkurs an der Kunstgewerbeschule in Biel (2014) hat sie den Bachelor of Fine Arts an der Hochschule Luzern – Design & Kunst absolviert. Ihre Diplomarbeit (2019) wurde mit dem Förderpreis der Zeugindesign-Stiftung ausgezeichnet. 2019 zeigte sie in Zusammenarbeit mit Jenny Scherer eine Performance im Migros-Museum Zürich in der Ausstellung «United by AIDS» und nahm an der Cantonale Berne Jura in der Stadtgalerie Bern sowie an der Nef in Le Noirmont teil. 2020 präsentierte sie im Programm Queer Archive in der Breeder Art Gallery in Athen ihre erste Soloausstellung mit dem Titel «Looking for Love». Ihr künstlerisches Schaffen umfasst hauptsächlich Malerei, Performances und Zeichnung. jeannejacob.com

Sie trafen sich mit 19 Jahren als Maturandinnen zum ersten Mal in Biel. Heute bilden sie für ausgewählte Projekte ein «Kunst-Duo»: Jeanne Jacob und Mirjam Ayla Zürcher ticken zwar ganz unterschiedlich, in grundsätzlichen Fragen denken sie aber in ähnlichen Mustern. Nur: wie? Und was hat das alles mit dem sterbenden Löwen in Luzern zu tun?
Um das herauszufinden, sehen wir uns im QuartierInfo Mett, einem Treffpunkt zum Basteln, Werken, Gärtnern, Spielen, Zusammensein und für ein lebendiges Quartier. Die Institution ist in einer alten Fabrik in der Bieler Peripherie untergebracht und unterstützt generationenübergreifende und multikulturelle Projekte. Hier ist das Atelier von Jeanne Jacob (*1994) untergebracht – ein geradezu ideales Habitat für die junge Bieler Künstlerin. Aus Bern ist die gleichaltrige Mirjam Ayla Zürcher angereist, leicht verspätet, weil sie an der falschen Bushaltestelle ausgestiegen ist. Beide kennen sich aus dem gestalterischen Vorkurs in Biel und dem gemeinsamen Studium an der Hochschule Luzern – Design & Kunst. Zwei verwandte Seelen in gewissem Sinne, was nur schon daraus zu deuten ist, dass sie seit 2017 mehrere Kunstprojekte gemeinsam entworfen und realisiert haben. Das letzte für das Mehrjahresprojekt «Löwendenkmal 21». Dazu später mehr.

Weit gefasster Feminismus
Jeanne und Mirjam bezeichnen sich selber als Queer-Feministinnen. Der Queer-Feminismus ist eine seit den Neunzigerjahren aufkommende Variante, die – im Gegensatz zur Frauenbewegung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts – nicht nur die Frauen, sondern alle, die nicht einer heteronormativen und cisgeschlechtlichen (binären) Norm entsprechen, in den Fokus ihrer Betrachtungen stellt. Für Mirjam und Jeanne geht die Diskussion viel weiter, als bloss für die Rechte der Frauen in einem patriarchalen System einzustehen: «Uns geht es um alle Formen der Diskriminierung. Wir betrachten die Welt mit kritischen Augen.» Mirjam fragt sich ausserdem, wie stark uns das «Weiss-Sein» prägt und erläutert die Theorie der Critical Whiteness. Diese Theorie untersucht, wie die weisse Identität die verschiedenen sozialen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Identitäten im Leben eines Menschen beeinflusst.
Beide Künstlerinnen arbeiten engagiert. Die Auseinandersetzung mit ihrer Identität spielt in ihrer Arbeit eine wichtige Rolle. Mirjam beschreibt diese Einstellung so: «Meine persönlichen Erfahrungen sind dann kollektiv, wenn diese auf etwas Strukturelles deuten. Ich schreibe zwar aus meiner Perspektive, bin aber stark beeinflusst von der Umwelt. Ich beobachte, horche auf, nehme Partei, empöre mich bisweilen.»
Mirjam ist die ruhigere des Künstlerinnen-Duos. Sie liebt Sprache, nutzt Wörter als Instrumente für ihre Ausdrucksform. Sie wollte als Kind Autorin werden, vielleicht Schauspielerin. Ihre Texte sind geschrieben, um darüber nachzudenken. Keine leichte Kost. Sie kann stundenlang in ihre Texte eintauchen, wägt Wort für Wort ab – streicht, ergänzt, versetzt ganze Textpassagen. Sprache sei ihr «bevorzugtes Material».
Jeanne ist temperamentvoller. Sie taucht ein in ihre Bilder, verflucht diese gar, wenn sie nicht weiterkommt. Setzt dann das Malen fort oder gibt es gänzlich auf und beginnt von Neuem. Beim Malen agiert Jeanne aus dem Bauch, intuitiv, bei den Performances mit dem Kopf, geplant und vorbereitet.

Mirjam Ayla Zürcher

Geboren 1994 in Biel, lebt und arbeitet in Bern. 2019 schloss sie ihr Fine Arts Studium an der Hochschule Luzern – Design & Kunst ab. 2019 folgte die Teilnahme an der Cantonale Berne Jura 2019 in der Stadtgalerie Bern. Mirjam Ayla Zürcher präsentiert regelmässig ihre Kurztexte als Radioblog im freien Radio RaBe und veröffentlicht sie im Magazin «Megafon».Ihre meist textbasierten Werke setzen sich mit Themen wie Gender, Care-Arbeit und Körper auseinander und finden ihre Form zwischen Audioinstallation, Performance, Radioblog und Video. Mirjam Ayla Zürcher ist Mitglied des Kollektivs des Frauenraums Bern und in anderen queerfeministischen Veranstaltungsgruppen aktiv, wie dem «VOILA*!» und dem queerfeministischen Pornografiefestival «Schamlos!» in Bern. mirjamaylazuercher.ch

Bild: Angel Gonzalo

Vielfältige Ausdrucksformen
Kunst kommt von Können: Jeanne hat eine solide, handwerkliche Basis, Mirjam verfügt über ein breites technisches Know-how im multimedialen Bereich. An der Hochschule in Luzern haben sie das künstlerische Denken gelernt. Ihr Kunstverständnis und künstlerisches Schaffen sind vielseitig. Jeannes Werk umfasst Malerei, Zeichnungen und Performances, Mirjams Kurztexte, die in Radioblogs, Lectureperformances oder Videos verarbeitet werden.
Beide stammen aus Familien, denen Politik nicht egal war. Mirjams Vater ist protestantischer Pfarrer. Als Teenager war sie ausgesprochen idealistisch, hat die Ungerechtigkeit auf dieser Welt angeprangert. Sie fühlte so etwas wie Weltschmerz, diese tiefe Traurigkeit über die Unzulänglichkeit der Welt. Solche Gefühle hegt sie heute noch, so wie Jeanne, die mit ihrem Vater «einen sehr interessanten Austausch» pflegt.
Die beiden Künstlerinnen haben mit der Performance «Eindrücke» gemeinsam ein Vaterprojekt inszeniert: Sie sitzen am Tisch, kneten Tonstücke und formen «Eindrücke». Sie führen ein Gespräch über das Verhältnis ihrer Väter zur Kunst im Allgemeinen und zu ihrer Auffassung von Kunst im Besonderen. Jeanne: «Der Dialog erzeugt Eindrücke, die wir als Tonklumpen darstellen und in die Mitte des Tisches legen. Was am Ende von unserem Gespräch übrig bleibt, sind die Eindrücke.»

Nachdenken über Denkmäler
Die Soldaten ziehen in den Krieg, die Frauen bleiben bei den Kindern. Diese Sicht steht am Anfang des Engagements der beiden Künstlerinnen für das Mehrjahresprojekt «Löwendenkmal 21». Sie wurden letzten Winter angefragt, am Projekt teilzunehmen. Danach hatten sie ein halbes Jahr Zeit, ihre Arbeit fertigzustellen.
Jeanne und Mirjam gingen vom Ansatz aus, dass Denkmäler im öffentlichen Raum eine symbolische Funktion einnehmen. Denkmäler repräsentieren, wer beziehungsweise was für eine Gesellschaft von Bedeutung ist oder war. Sie sind ein Abbild herrschender Machtstrukturen einer Gesellschaft in einer bestimmten Zeit.
«J’ai des privilèges, donc je peux» heisst das gemeinsame Werk der jungen Künstlerinnen, in ironischer Anlehnung an Descartes’ unumstössliche Wahrheit «Je pense, donc je suis». Sie stellen Denkmäler dar als «Erinnerungsordnungen einer kapitalistischen, patriarchalen und rassistischen Gesellschaft, die in der Geschichtsschreibung von und für alte, weisse Männer betrieben wurde».
Ihre multimediale Installation besteht aus vier Teilen: Das Video «FAQ» stellt Fragen über Privilegien, das Video «Grrrraaaaooooww» zeigt ein deformiertes Löwendenkmal. Das «Ongoing Manifesto» plädiert in poppiger Info-Panel-Ästhetik für mehr Solidarität und Verletzlichkeit. Schliesslich setzt sich die «Selbstdeklaration, Versuch 1» mit strukturellen Zusammenhängen zwischen individueller Laufbahn, Identität und kollektiven Determinismen auseinander. Insgesamt ein reifes Gesamtkunstwerk, das in kritischer und reflektierter Weise das Phänomen Privilegien entlarvt. Darin geht es für die beiden Künstlerinnen auch um die Widersprüche des Lebens.

Radikal offen
Jeanne und Mirjam haben unterschiedliche Charaktere, doch oft die gleichen Ideen. Sie sind mittlerweile gute Freundinnen geworden, telefonieren regelmässig einmal pro Woche. So haben sie ihr eigenes Care-System aufgebaut. Beide geben aber zu, unterschiedliche Tempi zu haben, wenn sie gemeinsame Projekte konzipieren. Jeanne zum Meinungsbildungsprozess: «Wir streiten gut miteinander, wägen ab, verhandeln. Wir kennen unsere Stärken und Schwächen. Bei Meinungsverschiedenheiten stimmen wir aber nicht ab.» «Wie denn auch», interveniert Mirjam, «zu zweit? Haha…». Der Generation Y zugehörig, sehen sie die Selbstbestimmung als Triebfeder menschlichen Tuns. Es ist jene Generation, die sich zunehmend Fragen stellt nach Sinnhaftigkeit und Werthaltung und für die eine Konsensbildung in basisdemokratischen Kollektiven wichtig ist.
Verantwortung, Vertrauen, Gerechtigkeit. Solche Themen beschäftigen und begleiten sie ständig. Für beide bedeutet mehr Macht automatisch mehr Verantwortung. Queer Feminismus sei nicht ein Frauenthema – es sei ein Thema für alle. Den einfachen Weg gehen, das sei irgendwie menschlich, denken beide: «Wir haben aber die Lust, uns mit anderen zu verbinden, nehmen aktiv an Aktionen teil. Wir praktizieren radikale Softness.»
Beide Künstlerinnen nutzen in ihrem Ausdruck die beiden Konzepte Plakativität und Subtilität. Sie arbeiten tief- und mehrschichtig. Sehen sich als radikal offen. In gewissem Sinne haben sie auch etwas Disruptives an sich, stehen dem gesellschaftlichen Wandel positiv gegenüber.
Jeanne seufzt tief: Sie möchte manchmal auch nur schöne Kunst machen. Rein aufs Ästhetische zielende Kunst. Kunst, um der Schönheit willen. Für sie ist politische Arbeit sicher spannend, ja gar notwendig, aber auch anstrengender.
Den zwei Kreativen geht es vor allem um Authentizität. Auch um soziales und politisches Engagement mit den Waffen der Kunst. Jeanne zitiert einen Satz der französischen Schriftstellerin und Filmemacherin Virginie Despentes, deren Werke für Skandal und literarisches Bewusstsein stehen, aber auch für eine poetisch verpackte und doch ungeschminkte Brutalität: «Rien ne me sépare de la merde qui m'entoure» (Nichts trennt mich von der Scheisse, die mich umgibt). Neulich, in einem engagierten Auftritt während eines Seminars im Centre Georges Pompidou in Paris, hat die radikale Autorin zahlreiche Widersprüche unserer Existenz entlarvt. Auch aus derart beherzten Performances holen die beiden Künstlerinnen ihre Inspiration.