London macht es vor – blicken wir auf King’s Cross

Luzern ist nicht London. Klar. Doch lohnt sich ein Blick in die britische Metropole, wenn es darum geht, über unser «Jahrhundertprojekt Durchgangsbahnhof» nachzudenken. Der Londoner Stadtteil King’s Cross ist derzeit eines der grössten städtebaulichen Projekte Grossbritanniens. Ein inspirierender Blick über den eigenen Tellerrand.

TEXT Angel Gonzalo und Kaisa Ruoranen
Lesezeit 10 Minuten

Die Planung des Durchgangsbahnhofs Luzern ist im Gange. Das entsprechende Vorprojekt wird bis Ende 2022 vorliegen. 2040 soll der 2,4 Milliarden Franken teure Durchgangsbahnhof in Betrieb gehen. Bereits jetzt beginnt – zumindest gedanklich – der Bau der Stadt unserer Kinder und Enkel. Das ist auch eine Chance, denn es geht darum, Zukunftsszenarien für die Gleisflächen zu entwerfen, die wegen des Durchgangsbahnhofs frei werden. Es geht immerhin um acht Hektaren (knapp 16 Fussballfelder) Fläche, die neu genutzt werden kann. In der Stadt werden bald alle darüber nachdenken und Entwürfe skizzieren können.
Etwa drei Mal grösser ist die bespielte Fläche rund um die King’s Cross Central Station (27 Hektaren), ein kultiger und geschichtsträchtiger Ort Londons. Dort entsteht derzeit eines der weltweit spannendsten städtebaulichen Projekte. Ein Blick darauf lohnt sich – aus verschiedenen Gründen.

Kohle, Kartoffeln und Getreide
Der Londoner Stadtteil King's Cross wird von seinem Bahnhof geprägt, einem Mikrokosmos, in dem sich Geschäftsreisende mit Rollkoffern auf dem Weg zum Eurostar mit Horden von Harry-Potter-Fans vermischen. Hier trifft man in den Farben von «Gryffindor» gekleidete Kinder, die sich auf dem «Bahnsteig 9¾» fotografieren lassen. Der lange Zeit grösste Bahnhof Grossbritanniens ist ein veritabler Star und kommt in mehreren Filmen und Büchern vor.
Das grosszügig angelegte Bahnhofs- und Güterareal war einer der wichtigsten Handelsknoten, nachdem der Warentransport zu Beginn des 19. Jahrhunderts den Weg vom Schiff auf die Schiene fand. Neben Kohle wurden in den speziell dafür konstruierten Güteranlagen entlang des Kanals Kartoffeln und Getreide gelagert, bevor die Ware weiter durchs Land reiste. Hunderte von Pferden, die auf ihre Einsätze warteten, waren dort untergebracht. Platz gab es sogar für eine «hauseigene» Pferdeklinik. In diesen Jahren des Aufbruchs wurde auch «The Metropolitan Railway», die erste unterirdische Bahn der Welt, fertiggestellt. Gebaut im sogenannten «cut and cover»-Verfahren, einem Tunnelsystem, das offen von oben her gebaut wurde – in einem gewissen Sinne ähnlich, wie sich die Arbeiten am Durchgangsbahnhof in Luzern dereinst gestalten werden.

Vom Güterbahnhof zum Kultquartier
Mitte des 19. Jahrhunderts wurden in dieser Gegend tonnenweise Kohle entladen, die mit dem Zug aus Nordengland ankam und in Fuhrwerken zur Versorgung Londons verteilt wurde. Mehr als ein Jahrhundert später, in den Neunzigerjahren, erwachten diese stillgelegten viktorianischen Lagerhäuser und wurden zur Bühne für epische – und in der Regel illegale – Raves und zum Mittelpunkt des Londoner Clubbings. Mit so ikonenhaften und inzwischen geschlossenen Locations wie «The Cross», «The Key» oder «Bagley's», dort, wo Prince 1993 die Afterparty seiner Act-II-Tournee veranstaltete und die Rolling Stones oder Madonna Videoclips drehten. In dieser Zeit war das Gebiet um King's Cross für sein Nachtleben bekannt und bildete so etwas wie eine Drehscheibe und Bühne für Künstler und kreative Organisationen jeglicher Couleur. Zunehmende Probleme mit Kriminalität, Arbeitslosigkeit und Drogen untergruben das Renommee der Gegend, die in der Folge mehrere Jahre in einen Dauerschlaf versank. Mit dem Wechsel ins 21. Jahrhundert schlug King’s Cross jedoch ein neues Kapitel in seiner Geschichte auf.

Die gelungene Renaissance
Der typisch viktorianische Backstein bildet die Kulisse für die hier stattfindende Londoner Designausstellung. Insbesondere die alten Industriegebäude im King's-Cross-Station-Viertel, das als Londons neues Silicon Valley bezeichnet wird und ein modernes Facelifting erhalten hat. Facebook und Youtube sind bereits eingezogen. Es wird erwartet, dass Google bald folgen wird.
In der Siedlung befindet sich heute bereits eine Universität, eine neue öffentliche Bibliothek, ein Kindergarten und zwei Grundschulen. Geplant sind rund 1900 Wohnungen, wovon ein grosser Teil «affordable», also bezahlbar, sein wird. Das Gesamtkonzept sieht eine enge Zusammenarbeit mit Freiwilligen-Organisationen vor und forciert attraktive Freizeit- und Sportmöglichkeiten. Einen grossen Anteil an der Metamorphose dieses einst berüchtigten Viertels trägt Coal Drops Yard, das Kultur-, Freizeit- und Kunstzentrum auf einer Fläche, die vor vielen Jahren als Kohlelager gedient hatte – daher der Name. Nun ist es in einen vor Leben strotzenden, multidisziplinären Raum mit zahlreichen Geschäften, Restaurants und Kunsträumen mutiert.

Kunst, Kommerz und Kultur
Das Einkaufszentrum Coal Drops Yard, das im Oktober 2018 an diesem geschichtsträchtigen Ort eröffnet wurde, gilt als eines der grössten Stadterneuerungsprojekte des Landes. Wer sich heute in die Umgebung des altehrwürdigen Bahnhofsareals begibt, stösst auf eines der jüngsten Wahrzeichen dieser Stadt.
Eine sorgfältige, vom international renommierten Architekten Thomas Heatherwick (Schöpfer des futuristisch anmutenden Google-Campus in Kalifornien oder des brandneuen Vessel Viewpoints in den New Yorker Hudson Yards) entworfene Restaurierung verbindet die beiden Backstein- und Gusseisengebäude mit ihren schiefergedeckten Wellblechdächern und macht den Komplex zu Londons neuem Einkaufsziel. Seine Bögen beherbergen rund fünfzig Geschäfte von aufstrebenden, originellen Kreativen. Hier findet man Nischenkosmetik, handgemachte Kerzen oder massgefertigte Gläser, aber auch renommierte Möbelstudios und Luxusbrands wie Paul Smith. Es ist als Treffpunkt konzipiert, an dem die Besucherinnen und Besucher, ob sie kaufen oder nicht, an einem Blumenarrangement-Workshop teilnehmen, eine Fotoausstellung besuchen, ihre eigene Lampe in Tom Dixons Atelier herstellen oder – wieso nicht – die herrlichen Tacos von Casa Pastor oder die Küche der Starköchin Pip Lacey aus Hicce (im Concept Store Hicce × Wolf & Badger ) ausprobieren können.
In der lebhaften N1C (die neue Postleitzahl des Gebietes) gibt es viel zu sehen und zu tun. Das Kings's-Cross-Besucherzentrum bietet Führungen an, die erklären, wie sich dieses ehemalige Elendsviertel mit zweifelhaftem Ruf komplett verwandelt hat.
Das Herzstück des Erneuerungsprojekts ist der Granary Square, der Platz, der seit 2011 Sitz der renommierten Modeschule Central Saint Martins ist. Seine Hauptattraktion sind die farbenfrohen Fontänen: 1080 choreographierte Düsen, die sich an heissen Tagen in ein improvisiertes städtisches Schwimmbad verwandeln, das jeder mit seinem Mobiltelefon zwischen vier und fünf Uhr nachmittags über die spezielle Anwendung Granary Squirt steuern kann. Nach dem Eintauchen in die Springbrunnen ist ein Spaziergang entlang des Regent's Canal ein Muss, bei dem es neben der Besichtigung der farbenfrohen Lastkähne, von denen einige zu Häusern umgebaut wurden, zwei wesentliche Stationen gibt: die schwimmende Buchhandlung Word on the Water, ein Boot aus den Zwanzigerjahren mit neuen und gebrauchten Büchern sowie Jazz- und Gedichtvorträgen. Und nicht zu vergessen das London Canal Museum, das die Geschichte der Wasserwege der Stadt anschaulich erklärt.

Zu den Grünflächen von King's Cross gehört der Gasholder Park, eine kreisförmige Rasenfläche, die von der Struktur eines alten viktorianischen Gasometers und einer hypnotisierenden Spiegelinstallation umgeben ist. Oder der ruhige Lewis Cubitt Park, an dessen Spitze sich der Skip Garden befindet. In diesem Gemeinschaftsgarten werden Obst und Gemüse angebaut sowie Töpfer-Workshops oder Yogakurse angeboten. Und voraussichtlich bis Ende 2020 wird der Camley Street Nature Park, ein städtisches Naturschutzgebiet, mit seinem schwimmenden Aussichtspunkt wiedereröffnet.
Mit einer Handvoll von Ständen und Essenswagen, ist der Streetfood-Markt KERB ein Paradies für Strassenverpflegung. Von Freitag bis Sonntag übernimmt der nahe gelegene überdachte Canopy Market mit seinen Austernständen, grillierten Käsesandwiches oder Craftbeer und seinen Ständen mit Kunsthandwerk oder Vintage-Schmuck. Gleich nebenan befindet sich das House of Illustration, ein Museum für Illustration und Grafik, das 2014 vom legendären britischen Künstler Quentin Blake gegründet wurde.

Eine gespenstische Esche
Ein Rundgang durch dieses pulsierende Stadtgebiet darf die Alte Kirche St. Pancras nicht auslassen, deren Besuch sich nicht nur wegen der Kirche mittelalterlichen Ursprungs lohnt, sondern vor allem wegen ihres Friedhofsgartens. Hier erhebt sich der unglaubliche Hardy Tree, eine gespenstisch aussehende Esche, deren Wurzeln vollständig mit Grabsteinen bedeckt sind. Sie wurden in den 1860-Jahren von Thomas Hardy, der vor seiner Tätigkeit als Schriftsteller Architekt war, platziert, als die Konstruktion der Eisenbahn die Verlegung eines Teils der Gräber auf dem Friedhof erzwang. Das ist ein weiterer Beweis dafür, wenn es denn eines weiteren bedürfte, dass die Geister der Vergangenheit der ganz besonderen Atmosphäre dieses Viertels immer noch Charakter verleihen.

King’s Cross in Zahlen

  • 27 Hektaren
  • 50 neue Gebäude
  • 1900 neue Wohnungen
  • 20 neue Strassen
  • 10 neue öffentliche Parks und Plätze
  • 10,5 Hektaren Freifläche
  • 42 000 Einwohner ab 2022
  • 5 der wichtigen neuen Plätze – Granary Square, Station Square, Pancras Square, Cubitt Square und North Square – sind zusammen 3,2 Hektaren gross
  • Coal Drops Yard ist ein 100-Millionen-Pfund-Projekt und 13 500 Quadratmeter gross