Vom kurdischen Bauernsohn zum Gastro-unternehmer

Das ist die Geschichte des Sohns eines kurdischen Bauern, der erfolgreich sein eigenes Restaurant in Luzern führt. Der Weg von Gökhan Temizmermer von Anatolien bis in die Schweiz liest sich abenteuerlich. Die vorgezogene Weihnachtsgeschichte über einen Selfemademan.

TEXT Angel Gonzalo
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Bild: Angel Gonzalo

Das Leben hat Gökhan Temizmermer nicht viele Geschenke beschert. Er erinnert sich, wie er als 13-Jähriger mit dem Traktor die Felder seines Vaters pflügte. Eines Tages sei ihm auf einem benachbarten Bauernhof ein etwa 35-jähriger Mann auf einem Velo aufgefallen. Das habe ihn fasziniert, zumal er nie auf einem Fahrrad gefahren war. Gökhan verhandelte mit dem Mann und konnte den Traktor mit dem Zweirad für einen halben Tag tauschen. Einen Morgen lang hat er sich so selber das Fahrradfahren beigebracht.
Diese Episode ist typisch für Gökhan, den kurdischen Bauernsohn aus Anatolien, den inzwischen fast alle in Luzern als Patron des Restaurants Made in Sud kennen. Obschon er der jüngste Sohn einer neunköpfigen Familie ist, wurde ihm früh viel Verantwortung aufgetragen. Er musste schnell lernen, auf eigenen Füssen zu stehen. Und er brachte sich vieles selber bei.

Geburtsdatum unbekannt
Seine Kindheit verbrachte Gökhan in Kandil, einem kleinen Dorf in Zentralanatolien mit damals rund 3000 Einwohnern, umgeben von Getreidefeldern, so weit das Auge reichte. In den Siebzigerjahren eine archaische, beschauliche Welt mitten im gebirgigen Kleinasien. Er wisse nicht mit Sicherheit, wann genau er geboren sei. In seinem türkischen Ausweis steht der 2. Januar 1974 geschrieben, aber das stimme nicht.
Die Anmeldung der geborenen Kinder sei damals eine umständliche, gar abenteuerliche Sache gewesen. Im Januar wurden traditionellerweise die Tiere auf den Grossviehmärkten in den grösseren Städten verkauft, sodass die Bauernfamilien ihre geborenen Kinder jeweils in dieser Zeit anmeldeten. Daher der 2. Januar im Pass. «Die Hälfte meiner Generation im ländlichen Anatolien weist ungenaue Geburtsdaten auf», sagt er mit einem Schmunzeln.
Von seiner Mutter wisse er, dass er gegen Ende März 1976 geboren sei. Etwa zu der Zeit, als das letzte Eis auf den Feldern gelegen habe. Fehlen im Haushalt die Uhren und Kalender, lebt man im Takt der Natur. Somit ist Gökhan auf bürokratische Weise glatt zwei Jahre älter als in Wirklichkeit. Das lässt ihn dafür jünger erscheinen.
Seine unbeschwerte, glückliche Kindheit verlief in den Bahnen einer typisch kurdischen Bauernfamilie. Erst in der Primarschule lernte er die vom Staat aufgezwungene türkische Sprache. Bis dahin hatte er nur kurdisch gesprochen.

Gymnasium als harte Lebensschule
Mit 15 Jahren begann für Gökhan eine entscheidende Phase in seinem Leben. Seinen Eltern war die Bildung ihrer Kinder wichtig. Sie schickten ihn ins Gymnasium nach Konya, einer Stadt mit zwei Millionen Einwohnern, 200 Kilometer südlich seines Geburtsortes gelegen. Finanziell wurde die Familie auf bewährte kurdische Art von zwei älteren Brüdern Gökhans unterstützt, die mittlerweile in Glarus und Winterthur ihr Geld verdienten. In Konya verbrachte er fünf Jahre bis zum Abschluss seiner gymnasialen Ausbildung und lebte zusammen mit seinem älteren Bruder Yussuf. Dieser studierte an der Universität Geschichte, musste aufgrund seiner politischen Aktivität für die kurdische Sache aber vorzeitig das Land verlassen.
Gökhan fand in Konya eine für ihn neue, unbekannte und bedrohliche Welt vor. Als Kurde und damit Teil einer Minorität inmitten von rund 3500 Gymnasiasten und 400 Lehrkräften, habe er sich lange Zeit als Fremder gefühlt. Er sei oft angefeindet worden, sein kurdisch gefärbter Akzent habe die Situation zusätzlich verschärft. Harte Zeiten brachen an, doch mit der Zeit, so Gökhan, gewöhne man sich daran. Der emotionale Druck seiner Familie, die Ausbildung durchzustehen, sei ihm durchaus bewusst gewesen: «Ich wollte meine Eltern nicht enttäuschen, und so habe ich auf die Zähne gebissen.»
Der Junge vom Land lernte schnell, liess sich nicht provozieren, schon gar nicht unterkriegen. Er wurde schneller reif als für sein Alter üblich. In dieser Zeit entwickelte er ein politisches Bewusstsein, auch wegen seines Bruders Yussuf, der für die Sache der Kurden in exponierter Weise mediale Arbeit verrichtete und ihn politisch beeinflusste. Sein Vater hingegen sei immer apolitisch gewesen, wie wohl die meisten Bauern seiner Generation, die sich mit der Situation als «Bürger zweiten Grades» in der Türkei irgendwie abgefunden hatten.

Ein Leader auf der Strasse
Der heranwachsende Gökhan liess die ständigen Anfeindungen nicht lange zu. Er schloss sich einer kurdischen Gruppe von Gymnasiasten an, die fortan zusammenhielt und dezidierte Gegenwehr leistete. Die psychische und physische Gewalt, welche viele kurdische Jugendliche in solchen Ausbildungsinstitutionen erleben mussten, prägte eine ganze Generation bis heute. «Gegenwehr als Überlebenschance», nennt Gökhan die angewandte Strategie. Er, der an unzähligen Auseinandersetzungen an vorderster Front teilnahm, oft zur Vertretung oder in Verteidigung eines schikanierten Freundes. Die türkischen Nationalisten der Gruppe «Graue Wölfe» oder auch Hooligans jeglicher Couleur machten dem jungen Kurden das Leben schwer.
In diesem rauen Umfeld lernte Gökhan die Regeln der «Streetfighters» kennen, ihre Riten und Rituale. Eine Lektion blieb bei ihm hängen: Nie aufgeben, keinen Schritt zurückweichen. Das bedingte, dass er sich immer mehr exponierte und sich mit der Zeit einen gewissen Ruf erwarb. Gökhan geriet so ungewollt in eine Leaderrolle, «aus einem gewissen Ehrgefühl heraus», wie er betont.

Mehr als einmal geriet er in brenzlige Situationen, etwa dann, wenn er einem zusammengestauchten Freund zur Seite stand, ihn aufmunterte und den Mut aufbrachte, die Aggressoren zu stellen. Er sei gewiss nicht stolz auf die Gewaltbereitschaft, die in ihm schlummerte, doch sei das der einzige Weg gewesen, sich und seinen kurdischen Freunden Respekt in einem testosterongeschwängerten Umfeld zu verschaffen. Es kam der Tag, an dem alle – Freunde wie Feinde – wussten, mit Gökhan sei in solchen Dingen nicht zu spassen. Dies führte nicht etwa zu mehr Gewalt, sondern brachte Ruhe zwischen den Fronten. Gökhan erlebte während seiner Schulzeit in der Grossstadt, wie wichtig es im Leben ist, Kontakte zu pflegen und Verhandlungen zu führen, gerade in einem feindlichen Umfeld. Das hat ihn reifen lassen und weitergebracht. Alle diese «Nebeneffekte» hinderten den vifen Gökhan nicht, das Gymnasium erfolgreich abzuschliessen.

Der Sprung in den Westen
Nach dem Gymnasium, im Alter von zwanzig Jahren, rief das Militär. Schnell immatrikulierte sich Gökhan als Wirtschaftsstudent an der Universität, um den Dienst für den türkischen Staat zu vermeiden. Er belegte seine Fächer zwei Jahre lang im Fernstudium und half nebenbei seinem Bruder Veysel, der aus Basel in die Türkei zurückgekehrt war, beim Aufbau einer Hühnerfarm. Als das Familienunternehmen 1998 wegen einer Rezession in finanzielle Schieflage geriet, bewies Gökhan erneut sein Verhandlungstalent beim Verkauf des Betriebes an eine mächtige und einflussreiche kurdische Familie.
Sein Ruf als gewiefter Unterhändler trotz seines jungen Alters war in kurdischen Kreisen sehr wohl bekannt. Er holte nicht nur einen ansprechenden Betrag für den hoch verschuldeten Betrieb heraus, sondern erhielt als zusätzliche Gegenleistung einen Lebensmittelladen obendrauf, welcher der Familie seines Bruders das Einkommen sichern sollte. Inzwischen lebte sein Bruder Yussuf in Belgien und arbeitete für das unabhängige kurdische Fernsehen «MED-TV» in Denderleeuw. Auf Intervention der türkischen Regierung musste Yussuf sechs Monate im Gefängnis verbringen.
Gökhan verfolgte die politische Arbeit seines Bruders besorgt aus der Ferne, entschloss sich dann im Alter von 24 Jahren, den Sprung in den Westen zu wagen. Auf verschlungenen Wegen erhielt er ein Visum als Geschäftsmann und landete, nachdem er zuvor mehrere Tage in Ankara um die Ausreise hatte bangen müssen, am 1. August 2000 mit nur 200 D-Mark in der Tasche in Bonn und fuhr direkt nach Belgien.
Dort blieb er nicht lange. Der junge Mann wollte nicht von seinem Bruder abhängig sein, wollte «mit eigenen Flügeln fliegen», wie er sagt. Er reiste bald zurück nach Deutschland, wo seine Schwester wohnte, doch das passte für Gökhan auf Anhieb nicht. Die relativ grosse kurdische Gemeinschaft in Deutschland lebte für ihn zu fest in den eigenen Traditionen verhaftet.

Luzern als neue Heimat
Die weitverzweigte Familie Gökhans führte den suchenden jungen Mann in die Schweiz nach Kreuzlingen, direkt zu einem Cousin mütterlicherseits. In der Schweiz stellte er ein Asylgesuch und landete in einem Auffangheim in Stans. Im Unterschied zu heute durften die Asylanten damals einer Arbeit nachgehen.
Gökhan ging hoch hinaus, arbeitete auf über 1900 Metern über Meer im Stanserhorn-Restaurant. Als Tellerwäscher. Danach folgten mehrere Anstellungen als Eisenleger, Kebabverkäufer, Kellner, Gärtner und gar Kranführer – ein vielseitig begabter Mann. Durch die Heirat mit einer Kurdin lebte er zwischenzeitlich in Winterthur, fand aber bald darauf den Weg zurück in die Zentralschweiz und arbeitete von 2008 bis 2014 als Werkarbeiter in der inzwischen ins Ausland verlagerten Schlauchfabrik Boa AG in Rothenburg.
In Luzern fand der «Nomade» eine neue Heimat und verbesserte zusehends seine Deutschkenntnisse. Ab 2012 belegte er gar vier Semester als Maschinenbaustudent an der Hochschule für Technik & Architektur in Horw und absolvierte nebenbei einen Deutschkurs. Auch in dieser Hinsicht bewies Gökhan viel Mut.
Inzwischen Vater einer Tochter, war für Gökhan die Doppelbelastung als Student und Werkarbeiter bei der Boa nicht mehr tragbar. 2015 übernahm Gökhan einen bereits bestehenden Kebabladen in Kriens. Als erster Kebab-Gastronom in der Zentralschweiz bot er fortan Schnitzel, Spiesse, Burger und Kebab in Bioqualität an. Damit hatte er seine Berufung gefunden.
Am 1. August 2016 eröffnete der Jungunternehmer sein eigenes Restaurant Made in Sud an der Obergrundstrasse in Luzern. Von seiner ehemaligen Dozentin an der Hochschule für Technik & Architektur erhielt Gökhan 20 000 Franken als Kredit, mit der Vorgabe, diesen erst dann zurückzuzahlen, wenn er es tun könnte.
Das ist für Gökhan Ehrensache und längst geschehen. Gemäss dem Online-Bewertungsportal Tripadvisor mischt das Restaurant ganz oben mit. Geführt von einem Gökhan, der eine entwaffnende und ehrliche Herzlichkeit im Umgang mit seinen Gästen pflegt. Und an die Verhandlungsfront geht, wenn es sich aufdrängt. Er, der Mann, der anpackt, wenn angepackt werden muss.