Ein «Thronfolger» findet sein Schloss

Im Schlössli Schönegg, Sitz des IT-Unternehmens AXON, stehen die Zeichen
auf Wandel. Kürzlich erhielt das Unternehmen die Baubewilligung für einen Ausbau
dieser denkmalgeschützten Liegenschaft. Hier sollen digitale Konzepte in
interdisziplinären Kooperationen erdacht und realisiert werden. Seit dem Frühjahr
2023 ist hier auch der Sitz der SCION Association. Dahinter steckt nichts weniger
als die Zukunft des Internets.

TEXT Angel Gonzalo
Lesezeit 8 Minuten

Scion bedeutet auf Englisch «Thronfolger». Der Begriff ist aber auch ein Akronym für «Scalability, Control and Isolation On Next-Generation Networks». Einfach erklärt: Bei SCION geht es um eine neue «Datenverkehrsinfrastruktur», die die Wege im unüberschaubaren Dickicht des Internets direkter, sicherer, energiesparender und schneller macht. Dahinter steckt die ETH Zürich und deren Professor für Computer Science Dr. Adrian Perrig (51).

Eine längst fällige Evolution
Anlässlich eines Events von digitalswitzerland Zen-tralschweiz Mitte September im Schlössli Schönegg zog Dr. Adrian Perrig die geladenen Gäste in seinen Bann. Er will das Internet von der Schweiz aus erneuern. Gestartet hat er dieses Vorhaben bereits in den USA an der Carnegie Mellon University in Pittsburgh, wo er 2009 zum ordentlichen Professor ernannt wurde. Hier wagte er sich an ein – wissenschaftlich gesehen – risikoreiches Projekt: Perrig arbeitete mit Studentinnen und Studenten daran, wie das Internet sicherer gemacht werden könnte. Das führte ihn schliesslich 2013 an die ETH nach Zürich, wo er das Projekt mit viel persönlichem Engagement weiterverfolgte. Für ihn ist die Entwicklung von SCION eine längst fällige Evolution. Zur Veranschaulichung: Die Daten und Netzwerkpakete reisen durchs Internet mit Hilfe von «Wegweisern», die an jeder Kreuzung diese Datenpakete auf den richtigen Weg leiten. Das Protokoll, das diese «Wegweiser» beschriftet, heisst Border Gateway Protocol (BGP). Es ist über 30 Jahre alt, hat sich über die Jahre kaum weiterentwickelt und ist daher angreifbar. Mit der enormen Expansion des Internets weist es viele Schwachstellen auf. So können Hacker die Wege im Internet manipulieren und Daten, die so auf eine falsche Route gelangen, abfangen oder beseitigen. Der Professor und sein Team haben eine neue Internetarchitektur aufgebaut, die durch ihre Konstruktion die wesentlichen Angriffe auf die Kommunikationsinfrastruktur nachweisbar verhindert.

Die Lösung: vorab beschriftete Datenpakete
SCION behebt die Schwächen des BGP, indem es das Protokoll ersetzt, ja gar überflüssig macht. Die Datenpakete werden nicht mehr durch das BGP gesteuert, sondern enthalten bereits zum Zeitpunkt des Abschickens die genauen Pfade, die sie auf der Reise durchs Internet nehmen sollen. Somit braucht es an den Kreuzungen keine Wegweiser mehr: Die Pakete werden mit «Autopilot» versendet. Vertrauliche Daten, wie etwa medizinische Fakten, gelangen so auf sicherem Weg zum Empfänger. Die Wege durchs Internet sollen laut Perrig somit sicherer, schneller und grüner werden. Wie funktioniert das? Anschaulich erklärt: Die weltweit verlegten Kabel bilden die Autobahnen des Internets, doch die Daten, die wir darauf herumschicken, würden noch immer mit «Ross und Kutsche» transportiert. Perrigs Lösung ist ein Upgrade, das auch noch weniger Energie verbraucht, weil die Datenwege damit gesteuert und optimiert werden können – der Datenverkehr wird somit ökologischer. Ein Beispiel: Will man eine Transaktion nach Singapur vornehmen, werden die Daten aktuell meistens via London, Los Angeles und Tokio geschickt. Dank SCION würden sie den schnelleren Weg via Kabel im Suezkanal nehmen. Das spart Zeit und Energie.
Das Netzwerk ist derart vertrauenswürdig, und die persönlichen Daten sind derart gut geschützt, dass SCION auf dem Schweizer Finanzplatz genutzt wird. Bereits 2022 lancierten die Nationalbank und die Börsenbetreiberin SIX ein Netzwerk, das auf dieser neuen Architektur basiert. Auch die ETH nutzt zu ihren Aussenposten teilweise SCION-Verbindungen. Perrig rechnet damit, dass schon in wenigen Jahren ein beachtlicher Teil des Internetverkehrs über SCION laufen könnte. In der Schweiz bieten bereits einige Anbieter SCION-Lösungen an, darunter zum Beispiel Swisscom, Sunrise, Switch, Cyberlink, Axpo, VTX, SwissIX und Anapaya. Das Ziel sei, so Perrig, sukzessive eine sichere Infrastruktur zur digitalen Kommunikation aufzubauen und weitere Provider zu gewinnen, vorerst in der Schweiz, danach weltweit. Es ist eine Infrastruktur, die sich vom bisherigen Internet dadurch unterscheidet, dass sie die Souveränität der Kommunikation der Gesellschaft und Wirtschaft zurückgibt. Diese neue Internetarchitektur hat das Potential, die Sicherheit und Leistungsfähigkeit vernetzter Systeme zu verbessern, sei es für die Kommunikation zwischen Bundesstellen, beim Austausch hochsensibler Informationen, etwa in elektronischen Patientendossiers zwischen Spitälern, Gesundheitsdienstleistern und Forschungsinstitutionen, zur Kommunikation zwischen Forschungseinrichtungen oder auch zum sicheren Betrieb der Energieversorgung. Die Schweiz erhält durch diese weltweit führende Technologie «Made in Switzerland» die Möglichkeit, ein landesweites Vorzeigeprojekt flächendeckend auszurollen.

Eine Vereinigung mit internationaler Ausstrahlung
Zufall ist es nicht, dass sich die ETH Zürich bzw. Professor Perrig und das Luzerner Unternehmen AXON bei diesem Vorzeigeprojekt gefunden haben. Die AXON-Gruppe hat seit 2008 diverse Firmen mit dem strategischen Fokus «digitale Transformation» aufgebaut und hält stets Ausschau nach neusten Entwicklungen. Das Unternehmen begleitet Firmen durch die Transformation und entwickelt Plattformen, welche die Geschäftsprozesse digital abbilden und verknüpfen. Heute sind über 700 Mitarbeitende in Luzern und in verschiedenen Niederlassungen tätig. Eigene Entwicklungslabore existieren in der Schweiz, England und in Vietnam. Die SCION Association, eine in diesem Frühjahr gegründete Vereinigung für ein sicheres und stabiles Internet, hat ihren Sitz im Schlössli Schönegg eingenommen. Von hier aus will dieses ETH-Spin-off die SCION-Technologie als Alternative zum derzeitigen Internetstandard etablieren. Konkret heisst das: Die Vereinigung wird die Standardisierung vorantreiben, Zertifizierungsverfahren einführen, die Open-Source-SCION-Software verwalten und ein synergistisches Ökosystem von Anwendungsentwicklern, Internet-Service- Providern, Router-Anbietern und Domain-Betreibern aufbauen. Der Unternehmer und AXON-Aktionär Uli Sigg unterstützt die SCION Association als Gründungsmitglied, zusammen mit der ETH Zürich, der SNB und der SIX Group. Im Vorstand wirken – neben Uli Sigg – Prof. Vanessa Wood (Vizepräsidentin für Wissenstransfer und Wirtschaftsbeziehungen der ETH Zürich), Dr. Thomas Moser (stellvertretendes Mitglied des Direktoriums der Schweizerischen Nationalbank), Prof. Reto Francioni (Präsident des Verwaltungsrates der Swiss International Airlines und ehemaliger Präsident der Deutschen Börse AG) sowie Dr. Thomas Wellauer (Präsident des Verwaltungsrates der SIX Group).

Das neue Schlössli – ein Ort der gelebten Innovation
Stefan Muff, VR-Präsident der AXON-GRUPPE, stellt die rhetorische Frage: «Was sind die teuersten Worte der Weltwirtschaft?», und gibt die Antwort gleich selbst: «Das haben wir immer schon so gemacht.» Damit gibt sich der umtriebige Unternehmer schon lange nicht mehr zufrieden: «Heute ist es wichtiger denn je, neue, unkonventionelle Lösungen, Ideen und Ansätze schnell zu denken, zu entwickeln und zu testen.» Mit einem ergänzenden, spektakulären Anbau im Schlössli Schönegg möchte er den entsprechenden Resonanzraum schaffen. Die Baubewilligung für das vom Luzerner Architekturbüro Marques Architekten konzipierte Bauprojekt ist bereits erteilt. Der Aushub und somit die Bauphase startet Anfang 2024. Das Unternehmen rechnet mit einer Bauzeit von eineinhalb bis zwei Jahren. Durch den Anbau soll das Schlössli Schönegg zu einem Ort für gelebte Innovation werden, wo die Räume mehrfach überlappend und multifunktional genutzt werden können. «Schlössli Collab» wird dieser Ort heissen und offen stehen für Unternehmen verschiedenster Industrien und akademische Institute, für kollaboratives Arbeiten und das Tüfteln an neuen Ideen. Vorgesehen sind ein Auditorium, das über multifunktionale Attribute verfügt, eine flexibel gestaltbare Raumordnung für interdisziplinäres Arbeiten und ein Restaurationsbetrieb für den Eigenbedarf. Stefan Muff will einen Ort erschaffen, an dem durch interdisziplinäre Zusammenarbeit von verschiedenen privatwirtschaftlichen und akademischen Akteuren zukunftsweisende Ideen entwickelt und getestet werden können: «Durch das Entfernen unnötiger Hürden, die Bereitstellung der bestmöglichen Infrastruktur, die Vernetzung von lokalen, nationalen und internationalen Akteuren sowie das Kombinieren unterschiedlichster Disziplinen und Ideen versetzen wir Menschen und Unternehmen in die Lage, neue Lösungen zu entwickeln und Innovationen voranzubringen.» Die Kollaboration mit Prof. Adrian Perrig und der SCION Association ist schon mal ein erster, wichtiger Schritt in diese Richtung. SCION – der «Thronfolger» der Internetarchitektur – hat nun im Schlössli Schönegg eine standesgemässe Bleibe gefunden.