Macht uns Big Data schlauer?

In der digitalen Ära hat sich die Art und Weise, wie Unternehmen und Organisationen mit Daten umgehen, erheblich verändert. Es geht nicht mehr nur darum, Daten zu sammeln, sondern sie intelligent zu nutzen, um wertvolle Informationen zu gewinnen. Was bedeutet aber Datenintelligenz, und wie kann sie Unternehmen dabei unterstützen, bessere Entscheidungen zu treffen?

TEXT Angel Gonzalo
Lesezeit 10 Minuten

Die Daten könnten nicht eindeutiger sein: 91 Pro-zent der Kinder, die mit Legosteinen spielten, waren Jungen. Vor rund zehn Jahren hätten die Manager des dänischen multinationalen Unternehmens vor dem x-ten Beweis kapitulieren können: Mädchen spielen nicht gerne mit Lego. Punkt. Doch der Vorstandsvorsitzende Jørgen Vig Knudstorp, damals ein junger, 40-jähriger Ingenieur (der erste ausserhalb der Gründerfamilie und ein Lego-Fan seit seiner Kindheit), war nicht überzeugt. Das Unternehmen begann eine vier Jahre dauernde Forschungsstudie mit 3500 Familien. Diese stellte fest, dass Mädchen sich mehr für gemeinsames Spielen und kleine Konstruktionen interessierten. Damit war die erfolgreiche Reihe «Lego Friends» geboren.
Dieses Beispiel veranschaulicht sehr gut, warum Daten nicht als reine Beweise behandelt werden können. Die explosionsartige Zunahme von Big Data hat sich unter Führungskräften herumgesprochen, und viele sind der Meinung, dass Daten im Mittelpunkt der Entscheidungsfindung stehen sollten. Dank der Daten agiert die Lego-Unternehmensführung heute wissenschaftlicher als je zuvor. Dieser Ansatz hat jedoch seine Grenzen. «Lego Friends» war eine Neuheit, und die damalige Datenlage gab keinen Anlass, den Markt für Mädchen zu erforschen, ganz im Gegenteil. Die Vision des «Baumeisters» Vig Knudstorp half entscheidend, den multinationalen Konzern, der in finanzielle Nöte geraten war, wieder flottzumachen.

Eine Frage der Perspektive
Laufen Manager bei so vielen neuen Messgrössen nicht Gefahr, falsche Entscheidungen zu treffen, die genau auf dem beruhen, was die Daten nicht aussagen?
Das Problem bei Big Data ist, dass die Wissenschaft rückwärts abläuft: Zuerst stellt man eine Hypothese auf, und erst dann testet man sie. Im beschriebenen Fall haben die Manager behauptet, dass Mädchen nicht Lego spielen. Das ist alles. Sie haben nicht erklärt, warum. Daten können dazu führen, dass man sie interpretiert, wie man will, wenn man nicht vorher eine Hypothese aufgestellt hat. Jahrelang war das der Ansatz: Man stellt eine Hypothese auf und schaut, ob die Realität auf das Modell reagiert.
Mit dem Aufkommen von Big Data hat sich das Blatt gewendet. Die Techniken des maschinellen Lernens werden auf unerforschtem Terrain angewandt, und der Weg nach vorn ist ein anderer, weil Datenwissenschaftler nichts über die Variablen annehmen. Das ist der Ausgangspunkt für die sich anbahnende «Revolution»: Algorithmen generieren im Nachhinein Hypothesen und wählen die beste aus. Wenn sie gut konstruiert sind, liegen sie in der Regel auch richtig. Wie diese Hypothesen zustande gekommen sind, lässt sich jedoch nicht erklären. Es ist, als wäre es eine Blackbox.
Ein Beispiel dafür sind die Fälle, in denen ein Kreditkartenbetrug erkannt wird: Es wäre schwierig, zu erklären, warum der Algorithmus bestimmte Transaktionen als verdächtig einstuft. Wenn es sich um Betrug handelt, wird die Abbuchung verweigert, aber wenn es sich nicht um Betrug handelt, wird die Karte nicht gesperrt.

Warum ist das alles so wichtig?
Warum also? Die Antwort auf diese Frage liegt in den Händen des Managements. Das ist nicht selten eine Welt, in der Entscheidungen getroffen werden, weil der CEO so etwas wie eine Vorahnung hat oder einfach nur, weil er die Konkurrenz imitiert. Muss ich wissen, warum meine Umsätze steigen, warum Kunden abwandern oder warum ein bestimmtes Produkt nicht funktioniert? Muss ich wissen, was sich in der Blackbox befindet, oder reicht es, das zukünftige Ergebnis zu erraten?
Bei bestimmten Geschäftsproblemen ist die Erklärbarkeit nicht unbedingt erforderlich, und in diesem Fall haben Algorithmen Vorteile. Unternehmen werden bessere Entscheidungen treffen, wenn sie die Daten gut analysieren und sie nicht einfach übernehmen, nur weil sie vorhanden sind. Um das Beste aus Big Data herauszuholen, braucht man Menschen, die wissen, wie man Fragen stellt und wo man nach den Antworten sucht.
Eine solche Frage ist zum Beispiel: Was haben etwa Airbnb, Disney, Uber, ING, Virgin, Google oder Walmart gemeinsam?
Die Antwort: Sie alle verfügen über eine grosse Menge an Kundendaten, und sie alle wenden bei ihren Entscheidungen auch verhaltensökonomische Methoden an.

Zwei Welten mit einem einzigen Profil
Die Synergien zwischen den beiden Welten Big Data und Verhaltensökonomie sind offensichtlich, und ein Profil scheint sich durchzusetzen: das des Datenwissenschaftlers. Vielleicht ist dies der erste Schritt, denn die Big-Data-Revolution ist noch recht jung, und viele Unternehmen haben keine Historie oder haben nicht alle für ihr Geschäft relevanten Informationen gesammelt.
Wenn diese Phase vorbei ist, kommt der nächste Schritt: Was nun? Viele haben riesige Summen in die Speicherung von unzähligen Daten investiert. Ihnen wurde weisgemacht, dass Big Data ein Wunderwerk sei, aber sie sind frustriert ob der Datenfriedhöfe.
Der Datenwissenschaftler muss dabei sein, aber Big Data muss sich anderen Bereichen öffnen, um das volle Potenzial der Zahlen auszuschöpfen. Die Technologie der Datenerfassung hat sich viel schneller weiterentwickelt als die Theorie, was wir damit machen können. Daten sind das Öl des 21. Jahrhunderts, so lautet eine der modischen Behauptungen. Aber selbst das schwarze Gold brauchte viel mehr Disziplinen, um das Beste daraus zu machen. Jetzt ist etwas Ähnliches im Gange.
Die Big-Data-Revolution fällt zeitlich mit einer anderen zusammen, mit jener der Verhaltensökonomie von Richard Thaler. Thalers Arbeit konzentriert sich darauf, wie psychologische, soziale und kognitive Faktoren das individuelle wirtschaftliche Entscheidungsverhalten beeinflussen. Er hat gezeigt, dass Menschen oft nicht rational handeln, wie es die traditionelle ökonomische Theorie annimmt, sondern vielmehr systematischen Denkfehlern und Verhaltensverzerrungen unterliegen. Diese Verhaltensmuster beeinflussen das Sparverhalten, Investitionsentscheidungen, Konsumgewohnheiten und andere ökonomische Entscheidungen. Dies gilt es in einer intelligenten Datenanalyse unbedingt zu berücksichtigen. Datenintelligenz bezieht sich auf den Prozess der intelligenten Datenerfassung, -sammlung, -analyse und -nutzung, um Erkenntnisse zu gewinnen und strategische Entscheidungen zu unterstützen. Es geht darum, Daten nicht nur passiv zu sammeln, sondern sie aktiv zu nutzen, um Informationen zu generieren, Muster zu erkennen und Einblicke zu gewinnen, die zu neuen Erkenntnissen oder einem Wettbewerbsvorteil führen können.

Disziplinen im Umgang mit Daten

Intelligente Datensammlung
Im Zentrum der Datenintelligenz steht die intelligente Datensammlung. Es geht darum, gezielt relevante Daten zu erfassen, anstatt einfach nur eine Vielzahl von Datenpunkten zu sammeln. Unternehmen setzen dabei auf fortschrittliche Technologien wie das Internet der Dinge (IoT), Sensoren und maschinelles Lernen, um Daten in Echtzeit zu erfassen und zu verarbeiten. Ein Beispiel: Ein intelligenter Stromzähler, der nicht nur den Energieverbrauch misst, sondern auch Daten zur Auslastung des Stromnetzes und zu möglichen Engpässen liefert.

Datenanalyse und -interpretation
Nach der Datenerfassung sind die Analyse und Interpretation entscheidend, um wertvolle Informationen zu gewinnen. Hier kommen Techniken wie maschinelles Lernen, künstliche Intelligenz und Data Mining zum Einsatz. Anhand dieser Technologien können Muster, Zusammenhänge und Trends in den Daten entdeckt werden. Ein Beispiel: Analyse von Kundendaten, um Vorlieben und Kaufverhalten zu verstehen und personalisierte Empfehlungen anzubieten.

Wertgenerierung und Entscheidungsfindung
Der eigentliche Wert der Datenintelligenz liegt in der Generierung von Wissen, das zu fundierten Entscheidungen führt. Die gewonnenen Informationen können beispielsweise genutzt werden, um die Produktentwicklung zu optimieren, den Kundenservice zu verbessern oder operative Abläufe zu optimieren. Ein Beispiel: Nutzung von Daten aus Lieferketten, um Engpässe vorherzusagen und rechtzeitig Gegenmassnahmen zu er-greifen.

Datenethik und Datenschutz
Bei der intelligenten Datennutzung ist es wichtig, auch ethische Aspekte zu berücksichtigen und den Datenschutz zu wahren. Unternehmen und Institutionen müssen sicherstellen, dass Daten in Übereinstimmung mit den geltenden Vorschriften und Richtlinien erhoben, gespeichert und genutzt werden. Der Schutz der Privatsphäre der Nutzerinnen und Nutzer sollte stets gewährleistet sein.

Dringend gesucht:
Big-Data-Spezialisten

Wir haben bereits Milliarden von Sensoren aller Art: in Mikrowellen, Autos, Ampeln, Kameras, Mobiles oder Häusern. Und alles will vernetzt sein. Dies ist ein Beweis dafür, dass die enorme Menge an Daten, die heute über die Verbraucher zur Verfügung stehen und die diese selbst in soziale Netzwerke oder auf Websites hochladen, sich in kürzester Zeit exponentiell vervielfachen wird. Das ruft nach Spezialisten, die mit dieser Menge gekonnt umgehen können.
Die Aufgaben von Big-Data-Spezialisten sind vielfältig. Unternehmen sind vor allem an Trendforschung, an der Gewinnung von Verbraucher-informationen und an der Sammlung von Produktinformationen interessiert. In diesem neuen Wirtschaftsszenario lassen sich drei grundlegende Funktionen dieser Fachleute ausmachen:

→ Datenwissenschaftler: Sie sind dafür zuständig, Informationen in Wissen umzuwandeln, damit Unternehmensanalysten agile und intelligentere Entscheidungen treffen können. Diese Fach-leute wenden fortgeschrittene Techniken der Informationsanalyse an (prädiktive und präskriptive Statistik) und entwickeln schnelle Konzeptnachweise für neue Geschäftsfragen, wobei sie die Durchführbarkeit und Zuverlässigkeit der Antworten bestimmen.

→ Visualisierungstechniker: Diese entwerfen neue interaktive «Metaphern», um den Datenmanager bei der effizienten Suche nach den am besten geeigneten Antworten im neuen Analyse-prozess zu unterstützen. Dies ermöglicht es dem Business-Analysten auch, die Geschichte hinter den Daten zu kontextualisieren und aus der Sicht des zu lösenden Geschäftsproblems auf die effektivste Weise zu erklären.

→ Business-Analyst 2.0: Dieser Fachmann sitzt zwischen Datenwissenschaftlern, Visualisierungsingenieuren und dem Endverbraucher. Er verfügt über die Fähigkeit zur Informationsverarbeitung, zur explorativen Analyse und zum Verständnis der neuen visuellen Analysemodelle. Dieser Profi muss auch ein guter Geschichtenerzähler sein, denn das Geschichtenerzählen ist der Schlüssel zum letzten Teil der Informationsreise. Der Business Analyst 2.0 hat die Aufgabe, die gesamte bisherige Arbeit in konkrete Vorschläge zu übersetzen.

Um aus einer so grossen Menge an Informationen Nutzen zu ziehen, müssen komplexe Analysemodelle entwickelt werden. Das Heraus-filtern der relevanten Daten kann wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen sein. Daher ist es wichtig, dass diese Untersuchungen von Fachleuten durchgeführt werden. Experten für Datenanalyse sind Mangelware. Es handelt sich um ein ebenso gefragtes wie junges Profil.
Niemand bezweifelt die wachsende Bedeutung von Data Scientists (wie Datenanalytiker genannt werden) in Unternehmen. Bislang hatten die Unternehmen ihre eigenen Datenbanken über ihre Kunden. Aber sie wussten nicht, was sie ausserhalb des Augenblicks des Konsums taten. Jetzt verbreiten sie relevante Informationen über soziale Netzwerke: was sie studieren, wohin sie reisen, welche Filme sie mögen usw. Man kann all diese Daten verarbeiten, um Schluss-folgerungen und Korrelationen zu ziehen. Man braucht sehr analytische Menschen. Die Daten werden zu uns sprechen, daran gibt es keinen Zweifel. Aber wie im wirklichen Leben gilt auch hier: Wenn wir nicht die richtigen Fragen stellen, werden wir nichts Gescheites herausfinden.