OMline – and take it easy
Es geht nicht darum, ob man für oder gegen die Digitalisierung ist. Die Welt wird immer digitaler. Doch die zunehmende Überforderung durch digitale Medien erfordert eine Entschleunigung: Der OMline-Lebensstil steht für eine ganzheitliche Haltung, die einen reflektierten Umgang mit Digitalität ermöglicht.
Sonntags mitten in der Grossstadthektik. Jugendliche treffen sich im Prospect Park im New Yorker Stadtteil Brooklyn. Sie lesen Bücher, zeichnen, reden miteinander, flanieren oder hören einfach dem Vogelgezwitscher zu. Ihre Mobiles haben sie nicht dabei, ja, viele von ihnen besitzen gar kein Smartphone, sondern nur ein einfaches Handy ohne Internetzugang. Die Gruppe nennt sich «The Luddites», in Anlehnung an Ned Ludd, der Anfang des 19. Jahrhunderts eine Arbeiterbewegung gegen die Industrialisierung anführte.
Die Jugendlichen leben einen Lifestyle vor, der – zumindest eine Zeit lang – befreit ist von sozialen Medien und Technologie. Verwehren Sie sich gegen die Errungenschaften der Technologie?
Sicher ist: Jeder Trend hat einen Gegentrend. Achtsamkeit in digitalen Zeiten nährt sich aus dem kollektiven Gefühl, dass wir im Netz Gefahr laufen, uns von uns selbst zu entfremden. Wie die New Yorker Jugendlichen befreien sich Menschen aus der Überforderung des Medial-Digitalen: Sie schalten ab, weil sie ihre Leistungsfähigkeit durch ständiges Multitasking gefährdet sehen. So sind in den USA Anleitungen zum Netzentzug wie «Digital Diet» oder «Unplug» Millionenbestseller. In «Digital Detox»-Camps etwa kann man erfahren, dass ein Leben auch ohne Smartphone möglich ist. Apps wie «Selfcontrol» begrenzen die Onlinezeit beziehungsweise den Zugang zu bestimmten Websites. Mittlerweile hat sich eine ganze Coaching-Branche rund um «Digital Rightsizing» entwickelt.


Ratgeberin für digitale Balance
Die Schweizer Journalistin Anna Miller beschäftigt sich seit Jahren mit dem Thema digitale Balance und hat einen Ratgeber dazu veröffentlicht («Verbunden. Wie du in digitalen Zeiten Platz schaffst für Dinge, die dir wirklich wichtig sind», Ullstein Taschenbuch 2023, 368 Seiten). Sie beschreibt darin, wie man die eigene Bildschirmzeit einschränkt und so mehr Platz schafft für die wirklich wichtigen Dinge.
Für die Journalistin ist die digitale Balance nicht nur ein individualpsychologisches Thema, sondern ein Thema für die ganze Gesellschaft. Es existieren bereits Initiativen von Unternehmen, die E-Mails ausserhalb der Bürozeiten gar nicht zustellen, um ihre Angestellten davon abzuhalten, zu Unzeiten ihren Posteingang abzurufen. In einer Trendanalyse zum Thema «Neue Achtsamkeit» hat das Deutsche «Zukunftsinstitut» Wege aufgezeigt, wie man der zunehmenden Überreizung durch Digitalisierung entgegenwirken kann.
Möglicherweise sei die effektivste Alternative zur digitalen Überforderung, stellten die Zukunftsforscher fest, kein kategorisches «Dagegen», sondern ein «Dafür», also ein neuer Lebensstil, der die Qualitäten des Netzes mit den Vorteilen des Analogen verbinden soll.

Der sogenannte OMline-Lebensstil ist die Antwort darauf, hergeleitet vom meditativen Urklang der Hinduisten und Buddhisten «Om». Kurz erklärt: Es geht um die Wiederherstellung des «Hier und Jetzt», aber bei voller Verbundenheit mit der Welt. Wie soll das gehen?
Vielleicht mit der Einsicht, dass Digitalisierung nicht in erster Linie mit Technologie zu tun hat, sondern vor allem ein sozialer beziehungsweise ein soziotechnischer Prozess ist, bei dem das Zusammenspiel von Mensch und Computer im Zentrum steht. Eine solche Interaktion benötigt einen emanzipierten und reifen Blick auf den komplexen Prozess der Digitalisierung und geht einher mit der Fähigkeit, Komplexität nicht möglichst effizient zu reduzieren, sondern sie achtsam zu managen. In einer zunehmend hypervernetzten, digital überreizten Welt wollen Menschen ihre eigene mentale Souveränität wiederherstellen. Nicht, indem sie einfach abschalten, sondern indem sie lernen, digitale Medien achtsamer und sinnvoller zu nutzen.
Wenn «online» die These und «offline» die Antithese ist, so steht OMline sozusagen für die Synthese: Nicht die Technik darf unser Leben bestimmen, im Gegenteil, der Mensch selbst nimmt das Steuer wieder in die Hand. Das ist eine bewusste Selbstermächtigung für einen klugen Umgang mit einer vernetzten Realität.
Spazieren bringt keinen
Gewinn, dafür viel Nutzen
Paradoxerweise scheint der gute, alte Spaziergang im hyperaktiven 21. Jahrhundert wieder in Mode zu sein. Vielleicht sogar als trotzige Gegenreaktion auf die digitale Überreizung. Neben den erwiesenen Vorteilen für die Gesundheit ist der regelmässige Spaziergang ein meditativer Akt. Dazu muss man sich von Gedanken an die Vergangenheit und die Zukunft lösen und sich auf die Gegenwart konzentrieren. Das wussten bereits die Flaneure, diese romantischen Pariser Spaziergänger des 19. Jahrhunderts. Der Lyriker Charles Baudelaire bezeichnete sie als «dilettantische Beobachter des städtischen Lebens». Zunächst hielt man sie für faule Menschen, für Menschen von geringem Wert, die ihre Zeit vergeudeten. Das grosse Larousse-Universalwörterbuch von 1872 beschrieb sie als ambivalent, ruhelos und müssig gleichermassen. Doch um diese Zeit tauchten ebenfalls die Verfechter der Kunst des Flanierens auf. Der Schriftsteller und Literaturkritiker Charles A. Sainte-Beuve schrieb, das Flanieren sei «das Gegenteil von Nichtstun», der Romantiker Honoré de Balzac bezeichnete es als «Gastronomie für die Augen». Der französische Philosoph Frédéric Gros, Autor des Essays «Walking, a philosophy», ist ebenfalls der Meinung, dass man sich zum Denken unbedingt aus dem Sessel erheben und spazieren gehen muss. Darin erzählt er von den Spaziergängen grosser Denker wie Nietzsche, Thoreau, Rousseau oder Montaigne. Wir denken nicht schlechter, wenn wir untätig sind, aber wir neigen dazu, statische Ideen zu entwickeln. Ideen kommen einem gerade deshalb, weil man nicht nach ihnen sucht. Oder mit den Worten von Gros: «Spazierengehen bringt keinen Gewinn, sondern nur Nutzen!» Schreiben Sie sich bei Spaziergängen Gedanken auf, in einem Notizbuch oder – ja, unbedingt! – auf dem Mobile, vielleicht mit einer Sprachaufnahme. Oft handelt es sich um gute Ideen, aber leicht und zerbrechlich, die man schnell vergisst. Und das wäre schade, denn, wenn wir Nietzsche Glauben schenken, «es sind nur die Gedanken wertvoll, die uns beim Gehen in den Sinn kommen».