Urner «Hacker» überraschen

Das war bisher viel Theorie über Analysen. Wir haben in die ersten Urner Hack Days reingeschaut und erfahren, was Analysen sind und können. Das Resultat: begeisterte Teilnehmerinnen und Teilnehmer, erfreuliche Ergebnisse und ein beunruhigter Urner Volkswirtschaftsdirektor.
Was ist passiert?

TEXT Valentina Fontana
Lesezeit 5 Minuten

Da hat der Verein Digital Cluster Uri (siehe Box) einen Volltreffer gelandet: Ende März treffen sich rund 80 Personen im Altdorfer Zeughaus zu den ersten Data Hack Days Uris. Dem Aufruf der Verantwortlichen rund um Präsident Kurt Gisler sind Programmiererinnen, Datenjonglierer, Konzepterinnen und weitere Interessierte gefolgt. Während eineinhalb Tagen arbeiten sie in Gruppen an verschiedenen Projekten. 70 Prozent der Teilnehmenden stammen aus dem Kanton Uri selbst. Ihre Themen drehen sich alle um Open Government Data, also um öffentlich zugängliche Daten. Diese werden beispielsweise von Gemeinden zur Verfügung gestellt.

Blick ins Altdorfer Zeughaus: Digital Cluster Uri hat zu den Data Hack Days eingeladen.

Amtsblatt digitalisiert
Eine dieser sogenannten Challenges befasst sich mit dem Urner Amtsblatt, eingegeben von Markus Frösch, Leiter der Abteilung Organisation, zuständig für Organisationsentwicklung und E-Government des Kantons Uri. «Es war im Prinzip eine simple Idee. Wir wollten erreichen, dass die rund 1300 Exemplare des Amtsblatts, die digital auf ur.ch zugänglich sind, auch vernünftig durchsucht werden können», sagt Markus Frösch.
Rund 50 000 Seiten voller Informationen haben sich seit 1999 in den Amtsblättern angesammelt, vorliegend als PDF-Dateien. Die vier Gruppenmitglieder machen sich an die Arbeit und sorgen schon bald für Verwunderung. Mit ihrer Lösung übertreffen sie jegliche Erwartungen. Mehr noch: Der Lösungsansatz eröffnet eine kontroverse Diskussion ums Thema öffentliche Daten und fördert verschiedene Problematiken zutage. Antworten sind gesucht. Doch der Reihe nach.
Die Hacker machen die PDF-Dateien mit einfachen Mitteln auslesbar und wandeln diese in ein datenbankkonformes Format um, wodurch die Datenbank mithilfe eines eigens entwickelten Skripts gefüllt werden kann. Sie bauen ein sogenanntes User Interface und nutzen eine Schnittstelle zu ChatGPT, dem im Internet frei zugänglichen Bot mit künstlicher Intelligenz, kurz KI.
Klingt das zu kompliziert? Dann einfacher: Der Fokus der Gruppe liegt vorab auf den inhaltlichen Bereichen Eigentumsübertragungen und Baugesuche, da diese Daten besonders gut strukturiert sind. Angaben zu Eigentumsübertragungen liefern beispielsweise Daten zu Käuferin, Verkäufer, Parzellen sowie weitere Informationen zu den Personen. Über das Admin-Geo-Portal kann dann das Team die Parzellennummern in Geopositionierungen umwandeln, und diese als Layer über eine Google Map legen. Nun findet man die Häuser oder Liegenschaften auch auf einer Karte.

Verknüpfungen werden sichtbar
Welche Liegenschaften hat Person X im Zeitraum Y gekauft? Das ist eine der Anfragen, die die KI im Nu beantwortet und als Tabelle auflistet. Da die Amtsblätter auch Informationen zu Hochzeiten, Betreibungen, Konkursen, Einbürgerungen und mehr enthalten, erlaubt das System bald Abfragen, die Verknüpfungen zu einzelnen Personen ergeben.
So erfährt man mehr als je zuvor – und alles aufgrund von öffentlich zugänglichen Daten. Solche Korrelationen sind bislang nicht möglich gewesen. Markus Frösch sagt: «Es war wohl nicht die Idee des Erfinders des Öffentlichkeitsprinzips, dass solche Abfragen machbar sind.»
Die Amtsblätter sind zwar immer schon öffentlich zugänglich gewesen, solche Datengeflechte aus dem Verknüpfen von Daten zu einzelnen Personen sind aus Zeit- und Kostengründen bis vor einem halben Jahr jedoch nicht machbar gewesen. «Innerhalb kürzester Zeit kann man sich Datenmodelle aus öffentlich zugänglichen Daten erarbeiten, das so überhaupt nicht vorgesehen war», resümiert Gruppenleiter Frösch.
Heisst konkret, dass Informationen über einzelne Personen zusammengetragen werden können, die es in sich haben können.

Zwei Tage Arbeit in Teams: Siebzig Prozent der Teilnehmenden stammen aus dem Kanton Uri.

Fragen des Datenschutzes
Brisant ist die Tatsache, dass mithilfe von künstlicher Intelligenz, Massenabfragen möglich werden. Datenschutzrechtlich ist dies heikel und konfrontiert Datenschützer mit dieser neuen Situation bezüglich des Öffentlichkeitsprinzips und des Persönlichkeitsschutzes. Mit solch konkreten Anwendungsfällen kommen also Fragen auf, welche noch ungeklärt sind. Wie viel soll die Öffentlichkeit über Privates erfahren, in Zeiten, in denen das Private über Social Media gerne bereits selbst schamlos dargestellt wird? Und wie viel ist zu schützen – unter dem Mantel des Persönlichkeitsschutzes – und soll privat bleiben?
Die an den Data Hackdays Uri gewonnenen Erkenntnisse aus dieser Challenge hätten alle überrollt, sagen die Beteiligten. Selbst die Programmierer hätten es noch vor einigen Monaten nicht für möglich gehalten, eine solche Lösung zu entwickeln. Markus Fröschs Fazit: «Wir sind gespannt, wohin das führt.».
Der Einsatz von künstlicher Intelligenz ermöglicht viele verschiedene Anwendungsfälle, doch ob diese genutzt werden können, bleibt vorerst offen. Auch, weil Daten, die nicht dem Öffentlichkeitsprinzip unterstehen, nicht an ChatGPT übergeben werden dürfen. Gemäss den Verantwortlichen der Data Hackdays Uri müssen dringend Diskussionen über Chancen und Risiken geführt werden. Dies sei aber erst dann möglich, wenn konkrete Anwendungsfälle auf dem Tisch liegen.
«Der Amtsblatt-Case war die simpelste Challenge der Hack Days. In Bezug auf die Frage, wie man zukünftig mit solchen Themen umgeht, hat sie sich allerdings als Volltreffer erwiesen», sagt Frösch. Und weiter: «Wir dürfen das Thema nicht aus den Augen lassen, sondern müssen uns damit auseinandersetzen. Auf der anderen Seite gibt es noch keinen Plan, wie damit umgegangen werden soll. Dies entbindet uns aber nicht von der grundsätzlichen Diskussion.»
Die Hack Days in Uri und das erstaunliche Resultat der Kombination von Amtsblättern und KI hat auch den Regierungsrat und Volkswirtschaftsdirektor des Kantons, Urban Camenzind, aufgerüttelt. Nach einer ersten spontanen Reaktion, in der er seinen Schreck nicht hat verbergen können, hat er sich wieder gefasst und zur Analyse angesetzt: «Neben den vielen Chancen, die sich durch die erleichterte oder gar freie Zugänglichkeit zu Daten ergeben, sind auch die Herausforderungen und Risiken im Auge zu behalten.» Urban Camenzind sagt: «Wir müssen als Gesellschaft lernen, wie wir öffentlich verfügbare, persönliche Daten und vertrauliche Informationen vor Missbrauch und Verfälschung schützen können.»
Im Kanton Uri ist man nun erst recht dafür sensibilisiert, welche Daten in Zukunft öffentlich zur Verfügung gestellt werden sollen – und welche nicht. Denn auch wenn sämtliche personenbezogenen Daten tabu sind, lassen solche Datengeflechte aus verschiedenen Quellen unter Umständen eben doch Rückschlüsse auf Individuen zu.
Der Fall sollte weit über Uri hinaus zu denken geben und ist für viele ein willkommener Startschuss für Diskussionen. In dieser Sache wird noch einiges auf uns zukommen.

Mehr über die Urner Digitalisierungsoffensive: digital-cluster-uri.ch

Digital
Cluster Uri

Der Verein Digital Cluster Uri setzt sich mit Fragen im Zusammenhang mit der Digitalisierung auseinander. Im Zentrum steht dabei der Dialog mit der Urner Bevölkerung im Zusammenhang mit der Anwendung neuer digitaler Technologien. Der Verein soll einen Beitrag leisten, um den Dialog zwischen Fachleuten und Anwendern moderner Technologien zu beleben. Die Initianten wollen sich für eine mündige Bevölkerung einsetzen, welche in der Lage ist, moderne Technologien sinnvoll einzusetzen.
Drei Fragen an Präsident Kurt Gisler, Unternehmer, Landrat und Präsident des Vereins Digital Cluster Uri:

Wie funktioniert ein Hackathon oder Hack Day?
Hacken, wie wir es verstehen, hat – anders, als man das vielleicht vermuten könnte – keine illegale Komponente. Es geht um Experimentierfreudigkeit und kreative pragmatische Lösungsansätze, wie man das auch als Tricks und Kniffs in Form von zum Beispiel Lifehacks kennt. Zu Beginn stellen die sogenannten Challenge-Owner ihre Aufgabenstellungen vor: die sogenannten Challenges. Danach ist es den Teilnehmenden selbst überlassen, an welcher Idee sie arbeiten beziehungsweise welchem Team sie sich anschliessen möchten. Die Gruppen organisieren sich selbst, arbeiten an ihren Challenges und präsentieren am Ende der Hack Days ihre Ergebnisse dem Plenum.

Was war das Ziel der Urner Data Hack Days?
Die Zielsetzung lautete: mit Daten und digitalen Hilfsmitteln Lösungen für öffentliche Probleme entwickeln und damit zum Gemeinwohl im Kanton Uri beitragen, also «Public Value» schaffen. Basierend auf Open Government Data, den frei verfügbaren Behördendaten, und mithilfe von zahlreichen Open Source Tools, der offen zugänglichen Software, entwickeln die Teilnehmenden der Data Hackdays Uri innovative Lösungen, die für die Menschen, die Umwelt, die Verwaltung und die Wirtschaft Nutzen stiften. Damit zeigen diese Anwendungen an den Data Hackdays Uri 2023 auf, wie die digitale Transformation im Dienst der Öffentlichkeit ihre Wirkung entfaltet.

Was ist Ihre Motivation, sich für den Wissensaustausch mit der Bevölkerung einzusetzen?
Ich finde es schwierig, dass sich Individuen mit der Aussage «Davon verstehe ich nichts» aus der Diskussion nehmen. Wir alle sind gefordert, genug zu verstehen, um die wichtigen anstehenden Entscheidungen bezüglich unserer digitalisierten Zukunft zu fällen. Es ist dringend notwendig, dass bedeutsame Technologien wie zum Beispiel künstliche Intelligenz demokratisiert werden. Ansonsten machen wir gesellschaftliche Rückschritte und bewegen uns in Richtung Mittelalter. In dieser Zeit wurde das Wissen von den Mächtigen in lateinischsprachigen Büchern unter Verschluss gehalten, wodurch die unwissende Bevölkerung manipuliert werden konnte. Die Mächtigen sind heute die Tech-giganten. Wir müssen dringend gegen die drohende fortschreitende Manipulation antreten.